Bewußtseinserweiterung    Wie nun der Mensch erst im Tode das volle Bewußtsein dessen erhält, was er in andern geistig gezeugt, wird er auch im Tode erst zum vollen Bewußtsein und Gebrauch dessen gelangen, was er in sich selbst getrieben. Was er während seines Lebens gesammelt an geistigen Schätzen, was sein Gedächtnis erfüllt, was sein Gefühl durchdringt, was sein Verstand und seine Phantasie geschaffen, bleibt ewig sein! Doch der ganze Zusammenhang davon bleibt diesseits dunkel; bloß der Gedanke schreitet mit einer lichten Ampel hindurch und beleuchtet, was auf der schmalen Linie seines Wesens liegt, das andere bleibt im Dunkel. Nimmer wird der Geist hienie-den seiner ganzen inneren Fülle auf einmal gewahr; bloß indem ein Moment desselben ein neues zur Verknüpfung herbeilockt, taucht es einen Augenblick aus dem Dunkel hervor und sinkt im nächsten wieder dahin zurück.

So ist der Mensch Fremdling in seinem eigenen Geiste und irrt darin herum, dem Zufall folgend, oder mühsam am Faden des Schlusses seinen Weg suchend, und vergißt oft seine besten Schätze, die abseits von der leuchtenden Spur des Gedankens versenkt liegen im Dunkel, was des Geistes weites Gefilde deckt. Aber im Augenblick des Todes, wo eine ewige Nacht das Auge seines Körpers überzieht, wird es zu tagen beginnen in seinem Geiste. Da wird der Mittelpunkt des inneren Menschen zu einer Sonne entbrennen, welche alles Geistige in ihm durchleuchten und zugleich als inneres Auge durchschauen wird mit überirdischer Klarheit. Alles was er hier vergessen, findet er da wieder, ja er vergaß es diesseits nur, weil es ihm voraus ins Jenseits ging; gesammelt findet er es nun wieder. In jener neuen allgemeinen Klarheit wird er nicht mehr mühsam zusammensuchen müssen, was er verknüpfen möchte, und zerstückeln in seine Merkmale, was er scheiden möchte, sondern mit einem Augenschlage wird alles, was in ihm selbst ist, gleichzeitig von ihm erblickt werden in seinen Verhältnissen der Einheit und des Widerspruchs, des Zusammenhanges und der Trennung, der Harmonie und des Zwiespalts, nicht bloß nach einer Richtung des Denkens, sondern gleichzeitig nach allen.   - Gustav Theodor Fechner, Das Büchlein vom Leben nach dem Tode. In: G. T. F., Das unendliche Leben. München 1984 (zuerst 1848)

Bewußtseinserweiterung (2)  Ob jemand von uns sein Bewußtsein erweitern möchte, wollte Z. wissen. »Ich wüßte nicht, was dagegen spricht«, erwiderte sein liebster Widersacher, der Philosophiestudent.  

»Und wie gehen Sie dabei vor?«

»Man kann unter den verschiedensten Techniken wählten. Die Mystiker haben einige davon gründlich erprobt. Oder denken Sie an die Traditionen der Chinesen und der Inder! Andere ziehen es vor, mit Drogen zu experimentieren. Das ist doch nichts Neues!«

»Ich verstehe«, sagte Z. »Die Frage ist nur, wozu das alles dienen soll. Ist es überhaupt wünschenswert, das, was wir Bewußtsein nennen, immer weiter aufzublähen? Besteht da nicht die Gefahr, daß einem der Kopf platzt? Könnte man nicht umgekehrt vorgehen und sich dadurch entlasten, daß man sein Bewußtsein reduziert? Den gesammelten Ballast abwirft? Vielleicht wäre das erfrischender und gesünder, auch wenn es einem kaum gelingen wird, bis zur vollkommenen Leere vorzustoßen.«

»Sie spielen, wie gewöhnlich, mit Worten«, gab Zs Kontrahent zurück. »Das ist es doch gerade, worauf Techniken wie Meditation, Yoga, Tao und so weiter abzielen. Ein solches Training, das höchste Konzentration erfordert, können Sie ebenso Erweiterung wie Entäußerung nennen. Das sind nur zwei Pole einer und derselben Kraft.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Z., »für Ihre Erläuterung«, und diesmal schien er es sogar ehrlich zu meinen.  - Hans Magnus Enzensberger, Herrn Zs Betrachtungen oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern. Berlin 2014

Bewußtseinserweiterung (3)  

Bewußtseinserweiterung (4)  Warum sollte er nicht seine individuelle magnetische Kraft den von anderen Menschen erdachten tyrannischen Maschinerien entgegenstellen l

In der Tat, das Schaudern bösartiger Begeisterung, das seine Nerven durchdrang, als er an diese Dinge dachte, hatte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit jener seltsamen Ekstase, in die er sich durch gewisse heroische mythologische Legenden zu versetzen pflegte. Niemals hätte er einem lebenden Menschen die berauschende Erweiterung der Persönlichkeit eingestanden, die über ihn dadurch zu kommen pflegte, daß er sich selbst als eine Art demiurgischer Kraft dachte, die ihre Macht aus dem Herzen der Natur selbst zog.

Und eben diese Art der Erweiterung war es, die er jetzt empfand, da er die geheimnisvollen Tiefen seiner Seele durch seinen Trotz gegen diese moderne Technik aufgewühlt und gereizt fühlte. Nicht, daß er zurückgegriffen hätte auf irgendeine traditionelle, archaische Hartnäckigkeit. Worauf er zurückgriff, das war eine listige, fintenschlagende Schlauheit, die in ihm selbst lag, eine Schlauheit, schlüpfrig, glatt und schlangenartig, eine Schlauheit, die dahinfließen konnte wie Luft, sinken wie Regenwasser, emporsteigen wie grüner Pflanzensaft, sich verwurzeln wie unsichtbare Sporen des Mooses, dahintreiben wie die häutige Decke eines Teiches, nachgeben und sich zurückziehen, sich zurückziehen und nachgeben, dennoch aber unerobert und unverletzlich bleiben.  - John Cowper Powys, Wolf Solent. Wien u. Hamburg 1986 (zuerst 1929)

Bewußtseinserweiterung (4)   Der Effekt der Drogen bestand darin, daß er sich vorkam, als würde er unter Wasser schwimmen, nur ohne Wasser. Oder im Licht schweben. Er war zwar immer noch in Bewegung, spürte auch den Drang danach, aber er bewegte sich nicht mehr kinetisch, sondern er schwebte. Er brauchte nur aufzutanken und sich von der Stimmung tragen zu lassen. Dazu setzte er sich den Strohhut schräg auf den Kopf, glitt über den Parkettboden seines Arbeitszimmers und tänzelte steifbeinig zum Kool-and-the-Gang-ßeat, den er sich leise im Kopf andrehte. Und wenn er so dahinschwebte, zerplatzten Hunderttausende von bunten Lämpchen wie Leuchtkugeln in seinem Kopf, aber lautlos, ohne jedes Geräusch. »Denn verstehst du«, sagte Chucky, »das Gehör ist dann so akut, daß man den Kopf schalldicht machen und die Dezibel ganz runterdrehen muß.«  - Elmore Leonard, Stick. München 1990

Bewußtseinserweiterung (5)  ihr Licht über die kahle, weiße Wand. Manchmal, wenn er einen Trip einwarf, schien alles um ihn im Raum zu schweben. Oder Dinge kamen auf ihn zu, zum Beispiel die Nase eines Menschen, einfach quer durchs Zimmer. Robin kam mit zwei Dosen Stroh's Bier aus der Küche, und er sah genau, wie sich ihr Arm drei Meter weit ausstreckte, um ihm eine zu geben. Es war ziemlich gutes LSD. Jetzt sagte sie was.

»Du hast mir gefehlt. Weißt du, wie lange es her ist?« Aber sie war schon fertig, bevor alle Worte ihn erreicht hatten. Das war etwas Neues. Skip hob die Hand, bewegte sie vor seinem Gesicht, und spürte Wasser. Deshalb also drangen ihre Worte verzögert zu ihm. Sie fragte, was er machte. »Nichts«, sagte er. Er hatte den Eindruck, in einem Schwimmbecken zu sein, das von Regalen voller Bücher und Tonnen alter Underground-Zeitungen umgeben war, die sie aufgehoben hatte.  - Elmore Leonard, Freaky Deaky. München 1989

Erweiterung Wahrnehmungsfähigkeit

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