Bettlägerig   Der Bettlägrige, der so ausgetrocknet war, schien, reif für die Letzte Ölung: die Ewigkeit, jene unfehlbare Ärztin, stand bereits über ihn gebeugt. Liebreich den Blick auf ihn geheftet (und etwas Speichel rann) mit den beweglichen und lüsternen Augen einer Rotkreuzschwester oder einer etwas nekrophilen Pflegerin: die ihm mit leichter Gebärde die Stirn wischt, mit ihrer ach so zögernden Hand: und mit der anderen, so erfahrenen, gewandt unter den Decken und sogar unter dem Körper, zwischen Steißbein und Gummiring greift und endlich findet, wo sie ihm den Schnabel einschlagen kann, die Kanüle aus Hartgummi, für das Klistier der Immunisierung auf immerdar.

Seltsames Kullern unter der Decke widersprach noch dem Koma und, seltsamer noch, dem Tod: gab einem das Gefühl, als stünde ein wundersames Ereignis bevor: daß die Laken, die Decken sogleich anschwellen, sich wölben würden: sich heben und in halber Höhe schweben müßten auf der erstarrten Schwerkraft des Todes. Die Alte, die Migliarini Veronica, hockte bucklig auf dem Stuhl, versteint in der Rückerinnerung der Jahrhunderte, die sich im Nicht-Erinnern aufgelöst: sie hielt die Hände verschränkt, gleich Cosimus Pater Patriae im gleichnamigen Bildnis des Pontormo: trockene Eidechsenhaut das Gesicht, und die faltige Unbewegtheit des Fossils. Sie hielt es nicht im Schoß, aber es hätte dorthin gehört: das tönerne Koh-lenöfchen. Sie hob die Augen, gläsern und gallertig in ihrem Grau, ohne daß sie an irgendeinen von jenen, die ihr als die Schatten erscheinen mußten, eine Frage richtete, weder an das Mädchen, noch an die Männer. Die verloschene Stille ihres Blicks widersetzte sich dem Ereignis, wie die erinnerungslose Erinnerung der Erde, die paläontologische Ferne: indem sie jenes hundertneunzigjährige Aztekengesicht abwendete von den Acquisitionen dieser Spezies, von den letzten, so läppischen Errungenschaften der italienischen Spitzelei.

Eine Porzellan-Bettschüssel wie aus einer Klinik erster Klasse stand auf dem Ziegelboden und nicht einmal an die Wand gerückt : und war auch nicht frei von einem nicht näher zu definierenden Inhalt, über dessen Konsistenz, Färbung, Geruch, Schleimigkeit und spezifisches Gewicht sich weder Ingravallos Luchsauge noch Spürnase näheren Bescheid verschaffen wollte.   - Carlo Emilio Gadda, Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana. München 1988

Bettlägerig (2)  Was soll ich Ihnen viel von jenen Besuchen bei der Bettlägerigen erzählen, die meistens zwei bis zweieinhalb Stunden dauerten. Trat Oskar ein, winkte sie vom Bett her: »Ach du best es, Oskarchen. Na komm beßchen näher und wenn de willst inne Federn, weil kalt is inne Stube und der Greff nur janz mies jehaizt hat!« So schlüpfte ich zu ihr unter das Federbett, ließ meine Trommel und jene beiden Stöcke, die gerade im Gebrauch waren, vor dem Bett liegen und erlaubte nur einem dritten, abgenutzten und etwas faserigen Trommelstock, mit mir der Lina einen Besuch abzustatten.

Nicht etwa, daß ich mich entkleidete, bevor ich bei Lina zu Bett ging. In Wolle, in Sammet und in Lederschuhen stieg ich ein und fand nach geraumer Zeit, trotz anstrengend einheizender Arbeit, in derselben, fast unverrückten Kleidung aus den verfilzten Federn heraus.

Nachdem ich den Gemüsehändler mehrmals kurz nach dem Verlassen des Linabettes, noch mit den Ausdünstungen seiner Frau behaftet, besucht hatte, bürgerte sich ein Brauchtum ein, dem ich allzugerne nachkam. Noch während ich im Bett der Greffschen weilte und meine letzten Übungen praktizierte, betrat der Gemüsehändler das Schlafzimmer mit einer Schüssel voller warmem Wasser, stellte die auf ein Schemelchen, legte Handtuch und Seife dazu und verließ wortlos, ohne das Bett mit einem einzigen Blick zu belasten, den Raum.

Oskar riß sich zumeist schnell von der ihm gebotenen Nestwärme los, fand zu der Waschschüssel und unterwarf sich und jenen im Bett wirkungsvollen ehemaligen Trommelstock einer gründlichen Reinigung; konnte ich doch verstehen, daß dem Greff der Geruch seiner Frau, selbst wenn der ihm aus zweiter Hand entgegenschlug, unerträglich war.

So aber, frisch gewaschen, war ich dem Bastler willkommen. All seine Maschinen und ihre verschiedenen Geräusche führte er mir vor.  - Günter Grass, Die Blechtrommel. Frankfurt am Main 1965 (zuerst 1958)

 

 

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