etroffenheit  Betroffen Die neuere deutsche allgemeine Betroffenheit (vgl. auch die eng verwandten  sensibel, verletzlich, verwundbar,  traurig und  Wut und Trauer) ist ein Kernstück der neuen deutschen Schwerinnerlichkeit. Sie wurde geboren zu Beginn der 70er Jahre, als der damalige ZDF-Talkmaster Reinhart Hoffmeister im Rahmen seiner Schnickschnack-Sendung Litera-Tour buchstäblich von allem und jedem betroffen war: von etwelchem neuen Theaterstück, das die Verbrechen der NS-Zeit bloßlegte, bis zum hinterletzten trübseligen Protestsong wider die Hast der Zeit. Der Hoffmeister dann freilich regelmäßig seinen Tribut zollte, indem er fix zur nächsten Betroffenheit überleitete. Denn am betroffensten war er natürlich eigentlich von seiner eigenen Sensibilität und Betroffenheit - vgl. dazu Nicolas Borns Romanzitat unter dem Stichwort  Wut und Trauer. Insofern ist die neuere deutsche Betroffenheit auch ein Ableger jenes »Engagements«, das, nach Adornos (ungeachtet des Schwindens von Engagement) noch immer wahrem Satz, in Deutschland zumeist auf Geblök hinausläuft. Waren vordem meist nur professionelle Politiker anläßlich von Todesfällen, Attentaten usw. kurzzeitig betroffen, so steigerte sich die allgemeine und allseitige Betroffenheit Mitte der 70er Jahre zur Allzweck-Beschwörungsformel, sie hatte ihre größte Zeit dann vor dem Hintergrund der Anti-Pershing-Proteste und erklomm schließlich ihre Epiphanie im Deutschen Bundestag, als die Fraktion der Grünen zwei Stunden lang praktisch ununterbrochen »betroffen« war - und nicht nur sie: in dergleichen Woche sollen auch, laut Theo Sommer (in derZeit), der Kanzler Kohl sowie er, Sommer selber, angesichts der Raketen bzw. des Widerstands gegen sie »betroffen« gewesen sein.

Dem folgte stante pede der Buchtitel Petra Kelly - Politikerin aus Betroffenheit (Monika Sperr) - und auch andere Verlage zogen nach: »Sachlich und doch betroffen«, sollte laut Hanser-Verlagswerbung ein Roman von Eva Demski sein - und das eben kann nicht gut sein: Denn »Betroffenheit« bedeutet heute, ein gutes halbes Jahrhundert nach dem Epilog von Brechts Der gute Mensch von Sezuan (»Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen«), wenig oder nichts mehr anderes als einen Euphemismus für Benommenheit, Benebeltheit, Behämmertheit, Gedankenlosigkeit oder aber, wenn denn schon nach Brecht gereimt werden muß, Besoffenheit. Noch genauer: Betroffenheit bedeutet heute: nichts. Absolut und wortwörtlich nichts. Dies beleuchtet nochmals ein Satz wie der auf dem Klappentext eines Ullstein-Taschenbuchs: »Guggenheim ist Erzähler, nicht Moralist. Er bleibt bei aller Gelassenheit mitbetroffen.« Und die Logik vor lauter Betroffenheits-Verschmocktheit nebenbei auch noch auf der Strecke. Wenn nicht eh alles gelogen wäre, dann müßte es jawohl plausibel heißen: »Er bleibt bei aller Mitbetroffenheit gelassen.« Was immer das auch heißen mag. »Betroffen« waren im letzten Jahrzehnt unter vielen anderen Berlins Bürgermeister von Weizsäcker (über den Tod eines Türken) und der Trainer Lattek (über die Nichtberücksichtigung seines Spielers Augenthaler durch Jupp Derwall). Die Frauenzeitschrift Feministische Studien hat gleichfalls Betroffenheit auf ihre Reklamefahnen geschrieben. Und laut Bild war etwa gleichzeitig auch der Außenminister Genscher von irgendwas sogar »tief betroffen«.

Die Lyrik der 70er Jahre, schreibt Volker Hage in dem gleichnamigen Reclam-Bändchen, sei u. a. von »Betroffenheit« geprägt gewesen. Tatsächlich ist es gerade die Anfälligkeit der ehemaligen und aktuellen Linken für Ramsch-Kategorien wie »Betroffenheit« und  »Wut und Trauer«, die bedenklich stimmt, ja fast betroffen macht. Logisch, daß deshalb auch Erika Runge und Peggy Parnass vierzehn Tage lang »Gespräche über Realität, Betroffenheit, Phantasie, Engagement« führen mußten. Sage und schreibe. Und das ausgerechnetan der »Sommeruniversität Toskana«, dem fraglosen Zentrum dieses hehren Genres und Gesockses. Allein, auch fortan ging es mit der Betroffenheit trefflich voran:
»Betroffen« war laut Taschenbuch-Magazin inzwischen ihrerseits die Schriftstellerin Eva Demski von einem Buch ihrer Kollegin Marlen Haushofer.
»Betroffen« war der Reporter Fritz von Thurn und Taxis vom Eishockey-Spiel Deutschland - Tschechoslowakei, nämlich von den vielen Fouls.
»Fortwirkende Betroffenheit« forderte im Zusammenhang der Gedenkfeierlichkeiten zum 8. Mai 1945 die langjährige F.D.P.-Spitzenpolitikerin Hildegard Hamm-Brücher in der »Tagebuch-Serie des Zeit-Magazins; und dies als ein schon nahezu objektloses und dafür um so damenhafteres Schreiten in Sack und Asche gleich zweimal: »Hoffentlich verplempern wir die Gelegenheit nicht, um unsere fortwirkende Betroffenheit zu bedenken und zu bekennen.« Und: »Wir dürfen nicht versäumen, unsere fortwirkende Betroffenheit zu bedenken und zu bekennen.«
Nämlich als ein ganz nebenbei auch die Opposition von Links und Rechts wünschenswert einnebelndes Allzweck-Wundertütenwaffenspray.
»Zutiefst betroffen« und »den Tränen nahe« zeigte sich am 21. 9. 85 in Hof beim SPD-Parteitag die Landtagsabgeordnete Carmen König über die Ablehnung eines Parteiantrags, die SPD-Frauen möchten in der Personalpolitik besser repräsentiert sein.
»Richtig erschüttert und betroffen« war der Journalist Bernd Schroeder von Konstantin Weckers Willy-Lied - und der Dichter seinerseits bestätigt: »So ist es vielen gegangen.« »Ungeheuer betroffen« fühlte sich schließlich von dem Willys entfernt vergleichbaren Tod des Demonstranten Günter Sare der hessische Innenminister Horst Winterstein (Der Spiegel).
»Betroffen« ist schließlich sogar der Schauspieler Klaus Wennemann von nichts Geringerem als seiner Rolle als Der Fahnder in der ARD-Krimiserie.
Nochmals und zusammengerafft: »Der Lehrer ist betroffen« (Alexander Kluge, Neue Geschichten). Den Lehrer gibt es aber jetzt auch schon als Polizisten und Polizistendarsteller. Nämlich irgendwie sind heute warum auch immer alle am Ende »endlich furchtbar betroffen« (R. Wagner, Parsifal, 2. Akt). - (eh)

Betroffenheit (2)  FRANKFURT AM MAIN taz Ganz Deutschland ist erschüttert. Die Nachricht schlug gestern ein wie eine Bombe: Roland Koch wurde aufgegessen. Wie der hessische Landeswahlleiter Wolfgang Hannappel am Freitagnachmittag auf einer Pressekonferenz in Wiesbaden bekanntgab, wurde der Spitzenkandidat der Christlich Demokratischen Union und Ministerpräsident des Landes Hessen, Roland Koch, Opfer des sogenannten Kannibalen von Rotenburg. In ersten Stellungnahmen zeigten sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der SPD-Vorsitzende Kurt Beck betroffen. Die Oppositionsführerin im hessischen Landtag Andrea Ypsilanti (SPD) erklärte: "Ich bin ein Stück weit entsetzt." Vertreter der Grünen und der Linken sprachen ihr Bedauern über den Vorfall aus. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) kündigte eine lückenlose Aufklärung der Tatumstände an und forderte eine Ausweitung der Vorratsspeicherung auf Kannibalen. ...

Wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in seiner Ausgabe am Montag berichtet, habe Meiwes laut Aussagen von Mithäftlingen seit Monaten Salz und Pfeffer gehortet. Meiwes hätte wörtlich geäußert: "Ich habe noch eine größere Mahlzeit vor mir." Zuletzt hätte sich der "Kannibale" mehrfach enttäuscht darüber gezeigt, dass ihm bei seiner Verurteilung die bürgerlichen Rechte aberkannt worden seien und er bei der Hessenwahl keine Stimme abgeben könne. Meiwes hatte sich im Gefängnis einer von den Grünen unterstützten Häftlingsgruppe angeschlossen, vermutlich auch, um leichter an Bioprodukte und erlesene Gewürze zu gelangen. Wie das Magazin Essen & Trinken vorab meldet, habe Meiwes Ministerpräsident Koch als Coq au vin zubereitet und dafür exquisite Produkte verwendet, die er alle mitgebracht habe. - Michael Ringel, TAZ-Wahrheit vom 26. Januar 2008

Wut und Trauer
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