eschneidung
des Herzens In Kapitel 16 der Apostelgeschichte heißt es: »Darnach begab
er«, gemeint ist Paulus, »sich auch nach Derbe und Lystra. Und siehe, dort lebte
ein Jünger, Timotheus mit Namen, der Sohn einer gläubig gewordenen Jüdin und
eines griechischen Vaters. Diesen wünschte sich Paulus als Begleiter auf der
Missionsreise; darum nahm er ihn und beschnitt ihn um der Juden willen, die
in jener Gegend lebten; denn alle wussten, dass sein Vater ein Grieche war.«
Was hier geschieht, ist unglaublich. Es handelt sich wohlgemerkt um einen Jünger,
also um einen bereits gläubigen jungen Mann, den Paulus gern als Begleiter möchte.
Dieser junge Mann ist unbeschnitten, obwohl er eine jüdische Mutter hat und
das Judentum sich matrilinear vererbt. Aber die Mutter war, wie es heißt, »gläubig
geworden«, sehr früh gläubig geworden, wenn sie steh bereits gegen eine Beschneidung
ihres Sohnes gewandt hatte, denn jüdische Knaben werden am achten Tag nach der
Geburt beschnitten. Paulus selbst wurde rund 32 Christ, befand sich um 50 in
Lystra, wo er auf Timotheus traf, dessen Geburtsdatum nicht bekannt ist, von
dem wir aber annehmen können, dass er damals um die sechzehn bis achtzehn Jahre
alt war, da Paulus ihn schon bald mit wichtigen Aufgaben betraute, unter anderem,
einen weiteren Brief aus einem römischen Gefängnis zu schmuggeln. Das heißt,
die Mutter des Timotheus war kurz nach dem Tod Jesus' 'bereits »gläubig« geworden,
Timotheus etwa genauso lange Christ wie Paulus selbst. Nun aber beschneidet
Paulus den Timotheus. Ein Christ führt einen alttestamentarischen Ritus aus,
mit dem ein männliches Geschöpf in die jüdische Gemeinde aufgenommen wird. Ein
Christ beschneidet einen anderen Christen. Und diese Beschneidung wird mit demselben
Wort, nämlich perietemen, beschrieben, mit dem Lukas einige Kapitel zuvor die
Beschneidung des Isaak benennt. Um das Unglaubliche dieses Vorgangs wirklich
zu verstehen und damit überhaupt interpretieren zu können, müssen wir kurz in
die Geschichte des Saulus zurückgehen. Er war ein pharisäischer Jude mit römischem
Bürgerrecht, der, ganz anders als Timotheus, eine Ausbildung zum Toralehrer
durchlief und, wie allgemein bekannt, zu einem der ärgsten Verfolger der Christen
wurde. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinde bestand er auf einer Beschneidung
von bekehrten Heiden, die damals oft erlassen wurde, um eine Bekehrung zu erleichtern.
Geht man also vom alten Saulus aus, so ist sein Verhalten gegenüber Timotheus
völlig verständlich, doch wir befinden uns fast zwei Jahrzehnte nach seiner
Bekehrung, und mittlerweile ist die Taufe an die Stelle der Beschneidung getreten,
mehr noch, es geht um ein ideelles Verständnis des Glaubens, das wichtiger ist
als ein Befolgen der Riten. Paulus schreibt dazu im zweiten Römerbrief: »Und
so wird, der von Natur unbeschnitten ist und das Gesetz vollbringt, dir ein
Richter sein, der du unter dem Buchstaben und der Beschneidung stehst und das
Gesetz übertrittst«, und etwas später: »Die Beschneidung des Herzens ist eine
Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht.« Seine Haltung
war also klar, und Paulus war niemand, weder als Saulus noch nach seiner Bekehrung,
der um den heißen Brei herumredete. Weshalb also beschneidet er Timotheus? Wegen
der Juden, die an dem Unbeschnittenen Anstoß nehmen könnten? Wohl kaum. Nein,
es geht um etwas anderes, er will das eigene Erbe, das eigene Körpergedächtnis
des Beschnittenen an sein »geliebtes und treues Kind«, an seinen Lieblingsjünger
weitergeben. Und Paulus nimmt dabei ganz bewusst in Kauf, dass er sich mit dieser
Handlung selbst widerspricht. Ich kann das Ganze hier nur anreißen, was ich
aber unter dem Timotheus-Komplex verstehe, das ist, in einer Art Analogie-schluss,
Folgendes: Die von mir benannte Generation hat Eltern, die keine Nazis waren,
aber unter dem Nationalsozialismus aufgewachsen sind, so wie Paulus, der Christ,
als Jude erzogen wurde, und beide geben, mehr oder weniger bewusst, ihr eigenes
Erbe an ihre Kinder weiter, was für diese Kinder verwirrend ist, wie es für
Timotheus verwirrend war, von einem Mann beschnitten zu werden, der die Beschneidung
selbst für überflüssig erklärt. Im Falle des Timotheus liegt alles relativ offen,
im Fall der Generation Timotheus natürlich nicht. - (raf)
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