eobachtetwerden   Zum ersten Mal seit zehn Jahren wurde ich für einen Moment wieder schüchtern. Unwillkürlich wandte ich den Kopf ab, damit er meine Ohren nicht sähe: damit die Körperteile, die mir, auch in einem Spiegel, verborgen bleiben, sich ihm nicht in solcher Deutlichkeit zeigten.

So verharrte ich einige Augenblicke. Ich glaubte sogar, ich würde erröten. Das Blut stieg mir zu Kopf, freilich zu schwach, mir die Wangen zu färben. Jetzt, mit dreißig, erröte ich oft auf diese Weise, und bin dann der einzige, der es weiß.

Indem ich mich wieder Lucien zudrehte, wurde mir bewußt, daß er gleich mir jemand aus Fleisch und Blut war: es war ein bißchen so, wie wenn ich mir im Spiegel unter die Zunge schaue.

Er lebte. Seine Nasenlöcher nahmen die Gerüche auf und erkannten sie. Eines Tages, als mehrere davon sich vermengten, hatte er sie unterschieden und sodann einzeln benannt. Er brachte die Geräusche nicht durcheinander. Er nahm die Uhrzeit aus derselben Distanz wahr wie ich. Er atmete in einem kaum langsameren Rhythmus als ich. Die Haut seines Gesichts ging unter dem Kragen weiter. Er hatte Brustwarzen, die vermutlich dunkel waren, denn er war braunhaarig, Flaum am Körper, einen konvexen oder konkaven Nabel, je nach der Fertigkeit der Hebamme.

Ich fand mein Selbstvertrauen wieder. Der mich da beobachtete, das war ein Mann wie ich. Die Mängel in meinem Gesicht hätte auch ich in dem seinen entdeckt. - Emmanuel Bove, Armand. Frankfurt am Main 1993 (zuerst 1924)

Beobachtetwerden (2)  Mir kam zu Bewußtsein, daß es in der Hütte immer heißer geworden war, vielleicht, weil sich das Gewitter nicht wirklich entlud. Ich bemerkte, daß ich in Schweiß gebadet war . . . einmal hatte ich mich, zu meinem Schrecken, drüben auf dem dicken Querast eines Kirschbaums zu sehen geglaubt; nun schirmte ich mir mit einer Hand das Licht im Fensterglas ab und spähte angestrengt, ob ich in einem der Blitze die dunkle gesträubte Gestalt noch einmal erblicken könne: die Bäume der Kirschallee waren endgültig verschwunden.

Wie er dort saß, dachte Waller, glich er einem gewaltigen Vogel, welcher in seinem windgeblähten Gefieder Mühe hatte, nicht von dem Ast geworfen zu werden. Immer öfter fuhr mir dann der Lichtreflex der hin- und herschwingenden Lampe dazwischen; ich fand diesen unheimlichen Beobachter nicht wieder, obwohl die Blitze dichter fielen und das Gelände in ein ununterbrochenes blauweißes Feuer tauchten. Doch ich hatte, sagte Waller, sogar den Strick zu erkennen geglaubt, der die raubvogelartige Gestalt im Baum aufrecht hielt. . . ein ziemlich ausgefranstes Seil, das vom Genick der Figur - still wie eine Puppe, die in ein Übermaß finsterer Lumpen gewickelt war - zu einem weiteren Querast aufwärts führte, und man konnte nicht feststellen, ob sie schon hing oder noch auf ihrem Sitz hockte . . . Wollte man ein solches Bild beschreiben, dachte Waller, dann wäre das ganze nichts als lächerlich.  - Wolfgang Hilbig, Die Kunde von den Bäumen. Frankfurt am Main 1994

Beobachtetwerden (3)

Mein eigenes Gesicht

In den dämmrigen grauen Straßen
zogen graue Massen hin und her.
Sie summten und psalmodierten wie Samoware.
Ich konnte keine Einzelheiten mehr
an ihnen erkennen.
Dann lösten sie sich auf
und wurden zu einem grauen Raum.
Der Raum schien ein weiter, endloser Gang zu sein,
der in der Feme dunkler und dunkler wurde
und sich in das Tiefe, in das Innere senkte.
Ich schlief und erwachte
und war schon während des Schlafes damit beschäftigt,
aus unscheinbaren, grauen Würfeln graue Eier auszupacken.
Einmal entfiel meinen Händen ein solches Ei,
fiel zu Boden und zerbrach,
und aus seinem Innern rollte eine Unzahl kleiner grauer Würfel,
auf denen bunte, funkelnde Träume abgebildet waren.
An einer finsteren Fensterscheibe sah ich mein eigenes Gesicht
gegen die Scheibe gedrückt
mir neugierig zuschauen.

 - Hans Arp, nach (mus)

Beobachtetwerden (4)

- Formicula (Gordon Douglas 1953)

Beobachtetwerden (5)  Seine Liebe keimte, blühte und wuchs, weil er sich nicht damit aufgehalten hatte, über sie nachzugrübeln. Ein slowenischer Bergbewohner sagte mir einmal, daß man die kleinen, kaum erschlossenen Pilze sammeln muß, wie sie sind, denn sie würden nicht mehr wachsen, nachdem wir sie betrachtet haben. Unnütz, am nächsten Tag zurückzukehren mit der Hoffnung, sie vollkommen entwickelt zu finden.

Auch die Liebe, wenn du sie beim Keimen beobachtest, bleibt stehen. Zuweilen resorbiert die Erde sie wieder.   - Pitigrilli, Kokain. Reinbek bei Hamburg 1988  (zuerst 1922)

 

Beobachtung

 

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