eleidigungsbrief   Georges Sadoul und Jean Caupenne sitzen 1930 in irgendeiner Provinzstadt in einem Café herum und lesen Zeitung, Dabei stoßen sie auf die Abschlußergebnisse der Militärakademie von Saint-Cyr. Der erste, der Primus seiner Klasse, ist ein gewisser Keller.

Was mir an der Geschichte so gefällt, ist, daß Sadoul und Caupenne nichts zu tun haben, sie sitzen irgendwo allein in der Provinz und langweilen sich, und plötzlich kommt ihnen die blendende Idee: Und wenn wir diesem Schwachkopf mal einen Brief schrieben?

Gesagt, getan. Sie bitten den Kellner um Schreibzeug und verfassen einen der schönsten Beleidigungsbriefe der surrealistischen Geschichte. Sie setzen ihre Unterschrift darunter und schicken ihn unverzüglich an den Primus von Saint-Cyr. Darin stehen so unvergeßliche Sätze wie: „Wir spucken auf die drei Farben. Mit Euch Widerlingen hängen wir die Eingeweide aller Offiziere der französischen Armee in die Sonne. Sollte man uns zwingen, in den Krieg zu ziehen, dann wollen wir wenigstens unter der glorreichen deutschen Pickelhaube dienen ..." Etcetera.

Besagter Keller bekam den Brief, übergab ihn dem Direktor von Saint-Cyr, der ihn an den General Gouraud weiterleitete, während er in Le Surrealisme au Service de la Révolution veröffentlicht wurde.

Die Affäre verursachte beträchtliches Aufsehen. Sadoul kam zu mir und sagte, er müsse fliehen, er müsse Frankreich verlassen. Ich erzählte den Noailles davon, die, großzügig wie immer, ihm viertausend Francs gaben. Caupenne wurde festgenommen. Die Väter Sadouls und Caupennes wurden beim Generalstab in Paris vorstellig, um sich zu entschuldigen. Doch vergeblich, in Saint-Cyr wollte man eine öffentliche Entschuldigung. Sadoul verließ Frankreich, aber Caupenne soll kniefällig vor der ganzen versammelten Militärakademie um Verzeihung gebeten haben — ich weiß nicht, ob es stimmt.

Bei dieser Geschichte fällt mir wieder André Bretons abgründige Traurigkeit ein, als er 1955 zu mir sagte: „Es gibt keine Skandale mehr ..." - Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985