egegnung (21) In einem der Waggons dritter Klasse waren bei Tagesanbruch zwei Passagiere, die einander dicht am Fenster gegenübersaßen, aus dem nächtlichen Halbschlummer erwacht - beides junge Leute, nicht gerade elegant gekleidete mit ziemlich auffallenden Gesichtszügen und sichtlich von dem Wunsch beseelt, ein Gespräch miteinander zu beginnen. Der eine von ihnen war von kleiner Gestalt, zählte etwa siebenundzwanzig Jahre, hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine, graue, lebhafte Augen. Seine Nase war breit und zusammengedrückt, die Backenknochen traten aus dem Gesicht scharf hervor; die dünnen Lippen waren beständig zu einem herausfordernd ironischen, fast boshaften Lächeln zusammengezogen, seine Stirn jedoch war hoch und wohlgebildet und milderte den Eindruck der unedel geformten unteren Gesichtshälfte. Auffallend War die Totenblässe dieses Gesichtes, die der Physiognomie des jungen Mannes trotz der kräftigen Züge den Ausdruck des Leidens und der Kränklichkeit verlieh, der zu dem kecken, trotzigen Lächeln und dem durchdringenden, selbstbewußten Blick durchaus nicht zu passen schien. Er war in einen weiten, tuchüberzogenen Pelz von schwarzem Lammfell gehüllt und hatte in der Nacht nichts von Frost verspürt, während sein Reisegefährte auf seinem bebenden Rücken die ganze Annehmlichkeit einer naßkalten russischen Novembemächt empfinden mußte, auf die er offenbar nicht vorbereitet war. Er trug einen ziemlich weiten und dichten ärmellosen Mantel mit einer großen Kapuze, in der Art, wie ihn öfters die Reisenden irgendwo im Ausland, in der Schweiz oder in Oberitalien, zur Winterszeit benutzen, wo freilich Reisetouren wie die von Eydtkuhnen nach Petersburg nicht in Frage kommen. Was in Italien seine guten Dienste tat, das erwies sich in Rußland natürlich als völlig unzureichend. Der Besitzer des Kapuzenmantels mochte gleichfalls sechs- oder siebenundzwanzig  Jahre zählen. Er war von etwas mehr als mittlerer Größe, hatte dichtes, auffallend hellblondes Haar, eingefallene Wangen und ein leichtes, spitzes fast ganz weißes Bärtchen. Seine Augen waren groß, eindringlich und von blauer Farbe; in ihrem Blicke lag etwas Stilles, Schwermütiges, etwas von jenem eigentümlichen Ausdruck, aus dem manche Leute auf den ersten Blick im Menschen die Neigung zur Epilepsie erraten. Im übrigen war das Gesicht des jungen Mannes angenehm, fein und zart, doch farblos, oder augenblicklich vielmehr vom Frost bläulich gefärbt. In seinen Händen baumelte ein in alten, verblichenen Zitz gehülltes Reisebündel, das scheinbar seine sämtlichen Habseligkeiten enthielt Die Füße waren mit dicksohligen Schuhen und Wadenstrümpfen bekleidet - alles nicht nach russischer Art. Der schwarzhaarige Nachbar im Schafpelz musterte alle diese Einzelheiten, weil er nichts Besseres zu tun hatte, und fragte endlich mit jenem unzarten Lächeln, in dem sich so recht rücksichtslos das eigene Wohlbehagen beim Anblick fremder Leiden auszudrücken pflegt:

«'s ist kalt, hm?» - Fjodor M. Dostojevskij, Der Idiot. Reinbek bei Hamburg 1964 (RK 149-152 zuerst 1868)

Begegnung (22)  Wohl auf manchen Wegen mögen die Geister der Lebenden und Toten sich unbewußt begegnen, auf manchen auch nur bewußt von einer Seite. Wer kann diesen ganzen Verkehr verfolgen und ergründen. Sagen wir nur kurz; sie begegnen sich, wenn sie sich mit Bewußtsein begegnen, und die Verstorbenen sind da, wo sie mit Bewußtsein da sind.

Ein Mittel gibt's bewußtester Begegnung zwischen den Lebenden und Verstorbenen; es ist das Andenken der "Lebenden an die Verstorbenen. Unsere Aufmerksamkeit auf die Verstorbenen richten, heißt, ihre Aufmerksamkeit für uns wecken, wie ein Reiz, der einen Lebendigen trifft, seine Aufmerksamkeit gleichsam dahin lockt, wo er ihn trifft.

Ist doch unser Andenken an die Verstorbenen nur eine in uns bewußt gewordene sich auf sie zurückwendende Folge ihres diesseitigen bewußten Lebens, das jenseitige aber wird infolge des diesseitigen geführt.

Auch wenn ein Lebender an einen Lebenden denkt, mag's einen Zug auf dessen Bewußtsein geben; doch er wirkt nichts, weil dessen Bewußtsein noch ganz in den Banden seines engen Leibes gefesselt liegt. Das durch den Tod entfesselte Bewußtsein aber sucht seine Stätte, und folgt dem Zug, der darauf geäußert wird, so leichter und so stärker, je öfter und je stärker er zuvor darauf geäußert ward.

Wie nun ein und derselbe körperliche Schlag stets zweiseitig vom Schlagenden und vom Geschlagenen zugleich gefühlt wird, ist es nur ein Bewußtseinsschlag, der in der Erinnerung an einen Verstorbenen zweiseitig gefühlt wird. Wir irren, nur die diesseitige Bewußtseinsseite für da haltend, weil wir die jenseitige nicht spüren; und dieser Irrtum hat Folgen des Irrtums und der Versäumnis.  - Gustav Theodor Fechner, Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, in: G.T.F., Das unendliche Leben. München 1984 (Matthes & Seitz debatte 2, zuerst 1836)

Begegnung (23) Eine Zeitlang war ich der alleinige Benutzer der Straße und stellte mir dabei vor, daß »Alleiniger«, so wie »Loser«, »Werfer« und »Trotz«, ein Name sei. Später kam mir ein Mann mit eisenbeschlagenen Schuhen entgegen und sagte vorbeigehend, in einem. übelwollenden Ton: »Ich weiß, wer du bist; aber du weißt nicht, wer ich bin!«   - Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1983)

Begegnung (24)  Sie liebte es, sich Männern am Telefon selbst zu beschreiben. Sie wußte aus Erfahrung, daß sie nur zu erwähnen brauchte, daß sie eine 1,85 Meter große Blondine sei, damit es nicht lange dauerte, bis es an der Tür klopfte. Auch diesmal behielt sie recht. Sie hatte die Beschreibung kaum beendet, als Roscoe sich auch schon mit ihr verabredete.

Die Frau, die Roscoe begrüßte, war genauso, wie sie sich beschrieben hatte. Susan hatte sich für das große Rendezvous sorgfaltig angezogen und geschminkt, aber bestimmte physische Mängel konnte sie nicht verbergen. In ihrem langen Gesicht standen die Zähne so weit vor, daß sie einen leichten Sprachfehler verursachten. Ihre Proportionen waren insgesamt unausgewogen: Ihr Oberkörper war schmal und zart, ging jedoch in übermäßig breite Hüften und Oberschenkel über. Roscoe dagegen war dünn und blaß, und als sie einander gegenüberstanden, befand sich seine Hornbrille auf gleicher Höhe wie Susans Kinn. Doch wenn Susan und Roscoe über das jeweilige Aussehen des anderen Enttäuschung empfanden, zeigten sie sie jedenfalls nicht. Sie gingen miteinander essen, und als Roscoe Susan fragte, was sie beruflich mache, sagte sie, sie sei in der psychologischen Beratung tätig, und wechselte rasch das Thema.  - Katie Hafner, John Markoff, Cyberpunk. Die Welt der Hacker. Düsseldorf 1993 (zuerst 1991)

Begegnung (25)  Er durfte nicht schlafen. Er war hier, um zu wachen. Seine Aufgabe war es, auf die Geräusche zu horchen, das Kommen und Gehen zu belauern. Ein Taxi, das vorbeifuhr, machte so viel Lärm, daß es die Stille herauszufordern schien. Es hielt. Eine Tür schlug zu. Es war aber weiter oben in der Straße, mindestens zehn Häuser weiter. Alle schliefen. Er dachte an Mademoiselle Isabella, die sich in ihrem Bett umdrehte und gewiß schon feucht von Schweiß war. Safts, im andern Zimmer, lagen in einem Bett. Er hatte ihr Zimmer besichtigt. Das Bett war so schmal, daß er sich fragte, wie sie beide darin Platz haben konnten. Er setzte sich auf sein eigenes Bett. Genauer gesagt, er fand sich sitzend auf seinem Bett wieder, ohne gemerkt zu haben, daß er sich bewegte, und sofort spitzte er die Ohren. Er war sicher, ein ungewöhnliches Geräusch vernommen zu haben, es klang, als ob jemand an Steingut oder Porzellan stieße.

Er wartete, unbeweglich, hielt den Atem an, und es gab ein zweites Geräusch im Erdgeschoß, diesmal von einem Schrank, den man wieder schloß.

Er steckte ein Streichholz an, um auf die Uhr zu sehen. Es war halb drei Uhr morgens.

Barfuß ging er zur Tür und öffnete sie vorsichtig einen Spalt breit, dann, als er sicher war, daß jemand aufgestanden war, zog er seine Hose an und schlüpfte in das Treppenhaus.

Er hatte den ersten Stock noch nicht erreicht, als eine Stufe unter seinen Schritten knarrte. Vermutlich knarrte sie immer. In jedem Haus gibt es wenigstens eine Stufe, die knarrt. Er hätte schwören können, daß einen Augenblick zuvor ein schwacher Lichtschein in den Flur fiel, ähnlich dem, der unter der Tür eines erleuchteten Zimmers hindurchschimmert.

Jetzt war das Licht plötzlich ausgegangen. Er blieb stehen. Je angestrengter er horchte, um so sicherer wurde er, daß auch ein anderer horchte, jemand, der wie er in der Dunkelheit den Atem anhielt. Er ging schneller hinunter, tastete sich zum Türknopf der Küche.

Eine Tasse fiel auf die Erde und zerbrach.

Er drehte den Lichtschalter an.

Vor ihm stand Mademoiselle Clément im Nachthemd, die Haare von einer Art Netz gehalten. Einen Augenblick lang konnte man auf ihrem Gesicht Verwirrung lesen, aber dann, als er es am wenigsten erwartete, brach sie in jenes kehlige Lachen aus, bei dem ihr schwerer Busen wippte.

»Sie haben mich aber erschreckt!« rief sie. »Mein Gott, habe ich Angst gehabtl«

Die Flamme brannte auf dem Gasherd. Es roch in der Küche nach frisch gekochtem Kaffee. Auf dem Wachstuch des Tisches lag ein riesiges Schinkenbrot.

»Ich war so erschrocken, als ich Schritte hörte, daß ich das Licht ausdrehte. Als die Schritte näher kamen, ließ ich aus lauter Angst meine Tasse fallen.«

Sie mochte noch so dick sein, ihr Körper unter dem Hemd war noch jung und appetitlich;

»Haben Sie auch Hunger bekommen?«

Er fragte, ohne zu wissen, wohin er blicken sollte:

»Sind Sie wieder aufgestanden, um etwas zu essen?«

Sie lachte von neuem auf und wurde etwas rot: »Das mache ich fast jede Nacht. Ich weiß, ich sollte nicht soviel essen, aber ich kann nicht dagegen an. Ich bin wie jener König von Frankreich, der immer auf seinem Nachttisch ein kaltes Huhn hatte.«

Sie nahm noch eine Tasse aus dem Schrank.

»Möchten Sie Kaffee trinken?«

Er wagte nicht zu fragen, ob sie zufällig Bier hätte. Ohne seine Antwort abzuwarten, schenkte sie ihm ein.

»Es wäre vielleicht besser, wenn ich einen Morgenrock überziehen würde. Wenn man uns überraschte ...«

Es sah tatsächlich komisch aus. Maigret hatte keine Jacke an. Die Hosenträger hingen ihm um die Hüften, und sein Haar war zerzaust. - Georges Simenon, Maigret als möblierter Herr. München 1977 (Heyne Simenon-Kriminalromane 19, zuerst 1951)

Begegnung (26)   Drei Tage lang hat es wie mit Kübeln gegossen. Bei Menschen meiner Art spricht man oft von einer Einwirkung des Mondes. Ich habe mich beobachtet, habe aber nicht gemerkt, daß bei Vollmond der Drang häufiger oder stärker war. Entscheidend ist viel mehr die Intensität, das heißt große Hitze im Juli oder Schneefall im Winter ...

Man könnte sagen, die Natur macht eine Krise durch und ...

Verstehen Sie?

Dieser Regen, der nicht aufhören wollte, die Sturmböen, das Geräusch des Windes, der an meinen Fensterläden rüttelte — das alles hatte mich schließlich fast um meinen Verstand gebracht.

So bin ich von zu Hause fort und durch den Sturm gelaufen.

Nach ein paar Minuten war ich völlig durchnäßt. Ich habe absichtlich den Kopf gehoben, damit mir der Regen ins Gesicht fiel.

Zeichen habe ich keine vernommen. Sie verstehen schon, was ich meine. Ich hätte nach Hause zurückgehen sollen, statt beharrlich weiter draußen zu bleiben. Aber ich ging und ging, ohne zu wissen, wohin.

Plötzlich hat meine Hand das Messer in meiner Tasche umklammert.

Und in diesem Augenblick sah ich die Lichter einer kleinen Bar in einer ziemlich dunklen Straße. In der Ferne hörte ich Schritte, aber das beunruhigte mich noch nicht.

Da kam ein junger Mann in heller Jacke aus der Bar. Die langen Haare klebten ihm wegen der Nässe im Nacken. Und da ist es passiert.

Ich kannte ihn nicht, hatte ihn noch nie gesehen, habe gar nicht auf sein Gesicht geachtet. Mehrmals habe ich zugestochen, doch als ich mich entfernte, merkte ich, daß die Entspannung nicht kam. Da bin ich umgekehrt und habe von neuem auf ihn eingestochen und seinen Kopf hochgehoben. - Georges Simenon, Maigret und der Mörder. München 1971 (Heyne Simenon-Kriminalromane 115, zuerst 1969)

Begegnung (27) Scheerbart sagte ihm natürlich keine Grobheiten; sei sanft und höhnisch! blieb auch jetzt seine Maxime, aber die durch den Kneifer funkelnden Augen bekamen ihre Genugtuung. Weil er gegen den zierlichen Hofmannsthal ein großer und schwerer Mann war, wurde dessen Hilflosigkeit vor diesem Fakir, der gleichsam zur Vernichtung des Wienertums überhaupt angesetzt hatte, auch äußerlich sichtbar. - Wilhelm Schäfer, nach: Leo Ikelaar (Hg.): Paul Scheerbart und Bruno Taut. Zur Geschichte einer Bekanntschaft. Paderborn 1996

Begegnung (28)   Das Mädchen bückte sich, als sie mit der großen, eisernen Kochpfanne aus der Höhle kam, und Robert Jordan sah ihr Gesicht von der Seite, und sah zugleich das Seltsame an ihr. Sie lächelte und sagte:

«Hola, Genosse», und Robert Jordan sagte: «Salud» und bemühte sich, sie nicht anzustarren und auch nicht wegzuschauen. Sie stellte die flache Pfanne vor ihn hin, und ihm fielen ihre schönen braunen Hände auf. Jetzt blickte sie ihm voll ins Gesicht und lächelte. Ihre Zähne waren weiß in dem braunen Gesicht, ihre Haut und ihre Augen waren von dem gleichen goldgelben Braun. Sie hatte hohe Backenknochen, lustige Augen und einen regelmäßigen Mund mit vollen Lippen. Ihr Haar hatte das goldene Gelb eines Kornfeldes, das die Sonne gebräunt hat, aber sie trug es sehr kurz geschnitten, so daß es nicht viel länger war als die Haare eines Biberpelzes. Sie lächelte Robert Jordan ins Gesicht und hob die braune Hand und strich sich über den Kopf.. - Ernest Hemingway, Wem die Stunde schlägt. Frankfurt am Main 1978 (zuerst 1940)

Begegnung (29)  Ein beliebiger Weg vor der Stadt. (Einzige Bedingung, daß man niemand begegnet). Der Hund ist plötzlich da, wie ein Einfall. Er benimmt sich absichtlich hündisch, scheinbar ganz erfüllt von seinen geringen Verrichtungen, aus denen er aber unbemerkt abgezielt, merkwürdig sichere Blicke nach dem Fremden wirft, der seinen Weg fortsetzt. Keiner dieser Blicke geht verloren. Der Hund ist bald vor, bald neben dem Gehenden, immerfort in heimlicher Beobachtung begriffen, die sich steigert. Plötzlich, den Fremden einholend:

Also doch! Also doch!

Er gibt überstürzte Zeichen der Freude von sich, mit denen er schließlich den Weitergehenden aufzuhalten sucht. Dieser macht eine schnelle, freundliche, beruhigende und zugleich abtuende Gebärde und kommt mit einem halben Schritt nach links leicht an dem Hund vorbei.

Der Hund in freudiger Erwartung:

Es steht noch bevor.

Er schluchzt vor Gefühlsüberfülle. Endlich stürzt er sich, das Gesicht hinaufhaltend, nochmals vor den rascher ausschreitenden Mann: Jetzt kommt es, denkt er, und hält sein Gesicht hin, inständig als Erkennungszeichen.

Jetzt kommt es.

Was? Sagt der Fremde, einen Augenblick zögernd.

Die Spannung in den Augen des Hundes geht in Verlegenheit über, in Zweifel, in Bestürzung. Ja wenn der Mann gar nicht weiß, was kommen soll, wie soll es dann kommen? – Beide müssen es wissen; nur dann kommt es.

Der Gehende tut wieder seinen halben Schritt nach links, ganz mechanisch diesmal; er sieht zerstreut aus. Der Hund hält sich vor ihm und versucht – nun fast ohne besondere Vorsicht anzuwenden – dem Fremden in die Augen zu sehen. Einmal glaubt er ihnen zu begegnen, aber die Blicke haften nicht aneinander.

Ist es möglich, daß diese Kleinigkeit … denkt der Hund.

Es ist keine Kleinigkeit, sagt der Fremde plötzlich, aufmerksam und ungeduldig.

Der Hund erschrickt: Wie (er faßt sich mühsam), wenn ich doch fühle, daß wir … Mein Inneres … meine …

Sprich es nicht aus, unterbricht ihn der Fremde fast zornig. Sie stehen einander gegenüber. Diesmal gehen ihre Blicke ineinander, die des Mannes in die des Hundes, wie Messer in ihre Scheiden gehen. - Rainer Maria Rilke

Begegnung (30)  Wir nähern uns dem Orte, wir kommen heran. Der fremde Hund hat uns hinter dem Zaun erwartet, er steht dort schimpfend und seine Ohnmacht beweinend, springt wild am Zaun empor und gibt sich die Miene - wieweit es ihm ernst ist, weiß niemand -, als würde er Bauschan unfehlbar in Stücke reißen, wenn er nur an ihn gelangen könnte. Trotzdem geht Bauschan, der ja an meiner Seite bleiben und vorübergehen könnte, an den Zaun; er muß es, er täte es auch gegen mein Wort; sein Fernbleiben würde innere Gesetze verletzen - weit tiefer gegründet und unverbrüchlicher als mein Verbot. Er geht also heran und vollzieht vor allen Dingen mit demütiger und still verschlossener Miene jene Opferhandlung, durch welche, wie er wohl weiß, immer eine gewisse Beruhigung und vorrübergehende Versöhnung des anderen zu bewirken ist, solange nämlich dieser an anderer Stelle dasselbe tut, wenn auch unter leisem Schimpfen und Weinen. Dann beginnen die beiden eine wilde Jagd den Zaun entlang, der eine diesseits, der andere jenseits, stumm und immer hart nebeneinander. Sie machen gleichzeitig kehrt am Ende des Anwesens und rasen nach der anderen Seite zurück, machen wieder kehrt und rasen noch einmal. Plötzlich aber, in der Mitte, bleiben sie wie angewurzelt stehen, nicht mehr seitlich zum Zaun, sondern senkrecht zu ihm, und halten durch ihn hindurch ihre Nasen aneinander. So stehen sie eine geraume Weile, um hierauf ihren sonderbaren und ergebnislosen Wettlauf, Schulter an Schulter, zu beiden Seiten des Zauns wiederaufzunehmen. Schließlich aber macht der meine von seiner Freiheit Gebrauch und entfernt sich. Das ist ein furchtbarer Augenblick für den Eingesperrten! Er steht es nicht aus, er sieht eine beispiellose Niedertracht darin, daß der andere sich einfallen läßt, einfach fortzugehen; er tobt, geifert, gebärdet sich wie verrückt vor Wut, rast allein sein Anwesen auf und ab, droht über den Zaun zu springen, um den Treulosen zu erwürgen, und sendet ihm die gemeinsten Schmähungen nach. Bauschan hört dies alles und ist sehr peinlich berührt davon, wie seine stille und betretene Miene bekundet, aber er sieht sich nicht um. - Thomas Mann, Herr und Hund. Ein Idyll. Frankfurt am Main 1963 (zuerst 1919)

Begegnung (31)  Höchstens, daß uns da drinnen im Busche ein gelagertes Liebespaar aufstößt, welches mit kecken und scheuen Tieraugen uns aus seinem Neste entgegenblickt, so, als wollte es trotzig fragen, ob wir etwa gegen seine Anwesenheit dahier und gegen sein Tun und abseitiges Treiben irgend etwas zu erinnern hätten, - was wir schweigend verneinen, indem wir uns beiseite machen: Bauschan mit jener Gleichgültigkeit, in der ihn alles beläßt, was nicht Wildgeruch nach sich zieht, und ich mit vollkommen verschlossener und ausdrucksloser Miene, welche alles auf sich beruhen und weder Beifall noch Mißbilligung im geringsten durchscheinen läßt. - Thomas Mann, Herr und Hund. Ein Idyll. Frankfurt am Main 1963 (zuerst 1919)

Begegnung (32)   Im Café setzte sich ein heuchlerischer Kerl zu mir und erzählte, daß er ein zwölfjähriges Mädchen besitzen möchte, und daß es ebenfalls möchte . . . und er verfluchte die Behörden, den Staat, das soziale System, das Recht, die Geistlichen, die Zivilisation, die Kultur. Er fluchte leise, wehmütig, melancholisch, mit schmutzigem Finger im Ohre bohrend und zur Decke schauend. - (gom)

Begegnung (33)  Das Wesentliche an jeder Erfindung tut der Zufall, aber den meisten Menschen begegnet dieser Zufall nicht. - (mo)

Begegnung (34)   Sie war barfuß. Das einzige, was sie auf dem Leib hatte, war ein gelbes Seidennachthemd mit dunklen Spritzern darauf. Mit beiden ausgestreckten Händen trug sie einen langen Dolch vor sich her, fast ein Schwert. Es war rot und naß. Ihre Hände und ihre bloßen Arme waren rot und naß. Auf der einen Backe hatte sie einen Blutspritzer. Ihre Augen waren klar, hell und ruhig. Ihre kleine Stirn war glatt, ihr Mund und Kinn fest.

Mit unbekümmertem Blick meinen wahrscheinlich bekümmerten fixierend, kam sie auf mich zu und sagte gleichmütig, geradeso, als hätte sie erwartet, mich hier zu treffen, als wäre sie hier hergekommen, um mich zu treffen:

»Nehmen Sie ihn. Er ist ein Beweisstück. Ich habe ihn getötet.«

»Hm?« machte ich.

Mir immer noch gerade in die Augen blickend, sagte sie: »Sie sind doch Detektiv. Bringen Sie mich dahin, wo man mich hängen wird.« - Dashiell Hammett, Der Fluch des Hauses Dain. Zürich 1976 (detebe 20293, zuerst 1929)

Begegnung (35)    Diese Geschöpfe waren nichts als bösartige Affen. Und doch waren sie so verschieden nicht von uns. Haariger waren sie, und ihre Beine waren knorriger, ihre Augen ein bißchen kleiner, ihr Hals dicker und kürzer und ihre Nasen platter. Aber wie wir hatten sie keine Haare im Gesicht und auf den Handflächen und Fußsohlen, und ihre Laute waren den unseren ähnlich und hatten auch eine ähnliche Bedeutung.

Ich sah ihn zuerst: ein verhutzeltes Männlein mit einem faltigen Gesicht und wäßrigen Augen — für uns ein gefundenes Fressen. In unserer Zeit gab es nämlich noch keine Freundschaft zwischen den verschiedenen Gattungen. Er war keiner von uns. Er war ein Bäumler und dazu noch sehr alt. Es stand uns frei, nach Belieben mit ihm unsere Possen zu treiben.

Er saß gegen einen Baumstamm gelehnt, offenbar seine Wohnstätte, denn in den Ästen hing ein zerfranstes Nest. Ich knuffte Schlappohr in die Seite, und vereint stürzten wir uns auf ihn. Er versuchte, in den Baum zu klettern, war aber viel zu langsam. Ich konnte ihn bequem am Bein wieder herunterziehen. Wie die Berserker machten wir uns über ihn her: wir zwickten und zwackten ihn, kniffen ihn in die Waden, kitzelten ihn mit abgerissenen Zweigen in den Ohren und lachten uns halb tot dabei. Seine Wut war aber auch zu komisch. Jeder Versuch, uns mit grimmigen Fratzen einzuschüchtern, verunglückte kläglich. Was dabei herauskam, war ein jämmerliches Greinen. Er knirschte mit seinen wackligen Zähnen und schlug sich mit den schwächlichen Fäusten gegen die magere Brust. Zu allem Überfluß hustete und keuchte und spuckte er entsetzlich. Jedesmal, wenn er in den Baum klettern wollte, zogen wir ihn wieder hinunter, bis er völlig erschöpft unten sitzen blieb und weinte. Schlappohr und ich setzten uns daneben, schlangen die Arme umeinander und feixten und weideten uns an seiner Erbärmlichkeit.

Sein Weinen schwoll zu einem Flennen an und sein Flennen zu lautem Jammern, bis ihm zuletzt ein Schrei gelang. Da bekamen wir es mit der Angst zu tun und versuchten, ihn zum Schweigen zu bringen. Aber je mehr wir ihn beruhigen wollten, um so lauter schrie er. Und dann hörten wir auch schon aus allernächster Nähe ein ›Goek! Goek!‹ Auf diese Laute folgten mehrere ›Goek! Goek!‹ als Antwort und dann aus der Ferne ein mächtiger Baßchor: ›Goek! Goek! Goek!‹ Zugleich erhob sich das ›Wuh! Wuh!‹ der Waldtiere um uns her.

Und nun ging die wilde Hatz los, die kein Ende nehmen wollte. Der ganze Stamm der Bäumler jagte uns quer durch den Wald! - Jack London, Vor Adams Zeiten. Frankfurt am Main 1984 (zuerst 1907)

Begegnung (36)  Vnd wo möchte ich den König finden, von dem jhr reden? sagt der Ritter: dann ich bin hieher kommen, sein Maiestet zu suchen, vnd bring dero newe zeitung von seiner guten Freundt einem.

Es begegne mir gleich hierüber, was jmmer wolle, antwort Garinter: so wil  ich euch die Warheit anzeigen. Wist für gewiß, daß ich der bin, nach welchem ihr fragt.

Auff diese Rede thal der Ritter den Helm hinweg, vnnd legt sein Schilt nider, folgendts botte er jme die Hand, mit Vermeldung, wie daß er der König Perion in Franckreich sey, welcher lange Zeit begird gehabt, jne zuerkennen. Gantz hefflig erfreuweten sich beide König, jrer vnuerhofften erkanntnuß halben, vnnd also von vielerlei Sachen sprachend, namen sie ein kleinen Fußpfadt im Holtz für, da sie die Jäger zufinden vermeinten. Aber one geferd zur selbigen stund lieff ein Hirsch, so von dem zeug entronnen, vor jhnen hin, auff welchen beide Fürsten zueilten, deß fürnemmens jne zu erstechen, daß doch anderst ergienge. Dann in dem sie jhme nachjagten, trabet ein erhitzigter Löw ausser dem Holtz herauß, käme jhnen vor, zerwürget dasWildpret vnseuberlich, vnnd settigt sich, vnnd fraß vom selbigem in jhr gegenwertigkeit, hernach zerrisse er ihne mit sein starcken Klauwen zu stücken, vnd wendet sein Gesicht vmb, auch mit auffgehebten der vordem Pfaaten einen, fienge er an zu Prüllen, vnd als ob er jnen dröwet, sein Haar zuerschütteln. Daß der König Perion wol sähe, doch mit lachenden worten sagt: Meister Löw, du wirst nit so fressig seyn, daß du vns nit auch ein theil vom gejagt lassest.

Nach geendeten diesen reden, stiege er also bald vom Pferde (dann es sich nicht gegen dem Löwen nähern wolt) fasset das wehr in die faust, den Schilt an den Arme (vnangesehen deß schreyens, so der König Garinter, der hoffnung jne abwendig zumachen, that) tratte stracks gegen dem Löwen zu, welcher zuerhaltung seins raubs vnd beut, gleich auff den König darlieff, deßwegen dann der streit zwischen jnen beiden angieng. Aber der Löw, so gantz geschwind vnd hurtig, brachte seinen Mann baldt vndersich. Nichts desto weniger hat der König also ein gut Hertz, daß, wiewol er sich in gantz grosser gefar seines lebens befände, doch hierab nichts erschracke, besonder sich also sterckel, daß Er sein Schwerdt soweit diesem grimmen Thier inn Leib hinein stach, daß es von stund an vor jhme todt danider fiel. Darab der König Garinter ein sollich verwundern name, daß er zu sich selber sagt: Gewißlich dieser ist nicht vnbillich für ein der allerbesten Ritter auff erden geachtet vnd gerümbt. - Amadis ausz Franckreich. Erster Band. Darmstadt 1973 (dt. zuerst 1561, orig. ca. 1465)

Begegnung (37)  Ich habe nie ganz an Diamond Jim Brady geglaubt, bis ich eines Sommers abends auf der Uferpromenade seiner erleuchteten Brustwehr ansichtig wurde.

Aus der Dunkelheit hervorleuchtend wie ein Suchscheinwerfer auf See, segelte er auf mich zu, ein prachtvoller Anblick unter der Vorherrschaft dreier Mastlichter, wie er da langsam mit den Gezeiten des Verkehrs dahintrieb, aus den unergründlichen Tiefen einer Leutseligkeit hervorlächelnd, die von steil ansteigenden schwarzen Brauen in Schach gehalten wurde. Die Diamanten an seiner Brust setzten Flagge, wie es der öffentlichen Ankündigung Bradys entsprach, und schon war er vorbei, in die Nacht verschwunden, nurmehr ein bewegter Schatten in feinem schwarzein Tuch.

»Haben Sie irgend etwas für unsere normale Gesellschaft übrig?« fragte ich ihn, als ich spater mit ihm zusammentraf.

»Nein.«

»Tun Sie etwas für sie um Ihres Seelenheils willen?«

»Ich brauche kein Seelenheil. Da, wo ich hingehen werde, wird man mich anstandslos hineinlassen.«

»Bedauern Sie irgend etwas?"«

»Ja. Den Tod der Bohème.«

»Sonst nichts?«

»Ich bedaure bisweilen, daß ich keine Kinder habe.«

»Werden Sie jemals heiraten?«

»Nicht, wenn ich noch ein Weilchen bei Verstand bleibe.« - (barn)

Begegnung (38)   Der Elefant soll, wenn er einem Menschen begegnet, der einzeln in der Einsamkeit umherirret, milde und zutraulich gegen ihn sein und ihm sogar den Weg zeigen. Bemerkt er die Spur des Menschen, bevor er ihn sieht, so soll er aus Furcht vor Nachstellung zittern, nachdem er ihn gewittert, stillstehen, um sich schauen, vor Zorn schnauben, nicht auf dessen Fußstapfen treten, sondern etwas Erde davon herausscharren und dem zunächst hinter ihm Befindlichen geben. Dieser reicht sie semern Nachbar und so weiter, bis sie an den letzten kommt, dann wendet sich der ganze Haufe um und stellt sich in Schlachtordnung. So anhaltend ist der Geruch, daß sie ihn alle wahrnehmen, obgleich diese Fußstapfen größtenteils nicht einmal von nackten Füßen herrühren. So soll auch der Tiger, der doch gegen alle übrigen Tiere wütet und selbst die Spur des Elefanten verachtet, beim Anblick eines menschlichen Fußstapfens seine Jungen wegtragen.   - (plin)

Begegnung (39)  Zuweilen mußten wir einfach alles liegen lassen und uns mit beiden Händen in der schwankenden Takelage festklammern, wobei uns jedesmal, wenn das Schiff zu dem furchtbaren Überholen ansetzte, vor Angst der Atem stockte. Es rollte, als hätte es die Absicht, sich mit uns rundum zu drehen. Das Deck voll Wasser, das laufende Gut in prallen Buchten unter dem Winddruck bebend, so stürmten wir an die zehn Seemeilen die Stunde dahin. Wir waren weit nach dem Süden vertrieben und viel südlicher gekommen, als wir wollten. Und plötzlich, mitten in unserer Arbeit oben am Hanger der Fockrah, fühlte ich, wie mich die mächtige Pranke des Zimmermanns an der Schulter packte, und zwar so kräftig, daß ich vor unerwartetem Schmerz laut aufschrie. Ich sah die Augen des Mannes dicht vor meinem Gesicht, als er brüllte: »Sehen Sie, sehen Sie, dort! Was ist das?«, wobei er mit der anderen Hand nach vorne wies. Zuerst sah ich gar nichts. Die See war eine einzige verlassene Wildnis schwarzer und weißer Hügel, und dann konnte ich etwas in dem Tumult der schäumenden Brecher ausmachen, das halb versteckt auf dem Wasser trieb, etwas Riesiges, das sich hob und senkte - etwas, das wie ein hervorquellender breiter Schaumstreifen aussah, aber etwas bläulicher und fester wirkte.

Es war ein Stück Treibeis, schon sehr zusammengeschmolzen, aber immer noch groß genug, um ein Schiff zum Sinken zu bringen. Es lag noch niedriger als ein Floß im Wasser und genau auf unserm Kurs, als wollte es uns, zwischen den Seen versteckt, in mörderischer Absicht aus dem Hinterhalt überfallen. Es war zu spät, um noch rechtzeitig an Deck zu kommen, ich schrie daher aus Leibeskräften von oben herab, bis mir fast der Schädel platzte. Achtern hörte man mich, und so gelang es, von dem Treibeis freizukommen, das den weiten Weg vom Südlichen Eismeer bis zu uns zurückgelegt hatte, um auf unser argloses Dasein einen Anschlag zu verüben. Eine Stunde später wäre das Schiff nicht mehr zu retten gewesen, denn keiner von uns hätte in der Dunkelheit das von den weißen Kämmen der See überspülte fahle Eis erkennen können. - (con)

Begegnung (40)

- Johannes Grützke, in (rol)

Begegnung (41)  Was schauen Sie mich so an, Sie können mich mal! Das wurde mir - in eben dem Augenblick, als unsere Wege sich kreuzten in der Rue Dauphine mit ihren zahlreichen Erdgeschoßläden, für die meine Apotheke, mein Tabakladen und der bescheidene Friseursalon, in dem eine junge hübsche Frau jede Woche mit Haarschneidemaschine und Schere meinen Schädel traktiert, nur ziemlich farblose Beispiele abgeben - von der fahlen und gebückten Gestalt zugerufen, die leicht schwankend einige Meter vor mir mitten auf einer Querstraße stand. Ich hatte den Mann kaum mit dem Blick gestreift, allerdings wohl mit einem Widerwillen, den er hatte erraten können (zweifellos wußte er um seinen Zustand und um die Mißbilligung, die ihm daraus erwachsen konnte), den festzustellen ihm jedoch gewiß nicht Zeit geblieben war, so flüchtig war mein Blick gewesen.

- Sie mich auch! stieß ich hervor, ohne mich umzudrehen und mit einer wegwerfenden Geste meiner rechten, herabhängenden Hand, ähnlich der, mit der man einen Röter zur Ruhe bringen will, der einem hinterherkläfft.

- Sie können mich zweimal! gab mein Brüllaffe fortissimo zurück, während ich meinen Weg fortsetzte mit der abgemessenen Würde desjenigen, den eine Beleidigung nicht treffen kann, die ihm von weit unter seinem eigenen Niveau entgegenschlägt und von jemandem geäußert wird, dessen Kopf durch momentane Trunkenheit oder gar permanent vernebelt ist, was mich die Arme-Leute-Aufmachung (die etwas schlampige Kleidung, die aber eher nach der eines Kleinbürgers als nach der eines Stadtstreichers aussah) vermuten ließ, die mir bei diesem Unbekannten aufgefallen war, der sich sogleich zu meinem Beleidiger entwickelt hatte.

Würdevoll ging ich weiter mit demselben schlendernden Schritt, den ich schon vor der Pöbelei eingeschlagen hatte. Würdevoll, aber innerlich vor Angst erschauernd. Angst wovor?  Gewiß nicht vor den möglichen Tätlichkeiten, zu denen sich dieses schmächtige Wesen in seiner Wut gegen mich hätte hinreißen lassen (ich bin gewiß kein Muskelprotz, aber ich wußte sehr wohl, daß diese Jammergestalt mich höchstens in einen grotesken Kampf hätte verwickeln können, bei dem keinerlei ernsthafter, dem Gegner zugefügter Schaden für ihn oder für mich als Trophäe zu erwarten gewesen wäre). Angst, um ehrlich zu sein, wie man vor einem Gespenst Angst hat, das hier in der Gestalt eines Wesens auftrat, das nur mehr eine Ruine war. Angst, als ob der Anblick eines Menschen, der zum Wrack heruntergekommen ist, daran erinnerte, daß man selber dem körperlichen Verfall nicht entrinnen kann. - (leiris2)

Begegnung (42)  Gott, wie wenig Menschen trifft man, deren Reisetasche man durchsuchen möchte! - André Gide, Die Verliese des Vatikan. München 1975 (zuerst 1914)

Begegnung (43)  Zwischen den Hügeln tauchte ein seltsames Etwas auf.

Es war eine Maschine, die aussah wie ein jadegrünes Insekt, wie eine Heuschrecke — ein Gebilde, das zierlich durch die frische Luft eilte. Überall an seinem Körper schimmerten undeutlich zahllose Diamanten und Rubine deren Facettenaugen lebhaft glitzerten. Die sechs Beine der Maschine erzeugten auf der alten Straße ein Geräusch wie leiser, schwächer werdender Regen, und auf dem Rücken der Maschine saß ein Marsianer mit Augen wie geschmolzenes Gold. Er sah auf Tomäs herab, als ob er in einen Brunnen schaute.

Tomäs hob automatisch die Hand und dachte: Hallo! Die Lippen bewegte er nicht, denn das Wesen war tatsächlich ein Marsianer. Doch Tomàs hatte in den blauen Flüssen der Erde geschwommen, während Fremde seines Weges kamen, und er hatte schon oft mit fremden Menschen in fremden Häusern gegessen, und stets war das Lächeln seine Waffe gewesen. Eine Pistole hatte er nicht bei sich. Und er spürte auch jetzt kein Verlangen danach, trotz des kleinen Angstknotens, der sich in der Gegend seines Herzens zusammenzog.

Auch die Hände des Marsianers waren leer. Einen Augenblick lang schauten sie sich durch die Kälte an.

Schließlich rührte sich Tomàs.

»Hallo!« rief er.

»Hallo!« rief der Marsianer in seiner Sprache.

Sie verstanden einander nicht.

»Haben Sie ›Hallo‹ gesagt?« fragten beide.

»Was haben Sie gesagt?« fragten sie, jeder in seiner Sprache.

Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

»Wer sind Sie?« fragte Tomàs auf Englisch.

»Was machen Sie hier?« fragte der Fremde auf Marsianisch; seine Lippen bewegten sich.

»Wohin wollen Sie?« fragten sie und sahen ratlos aus.

»Ich heiße Tomàs Gomez.«

»Ich heiße Muhe Ca.«

Keiner der beiden verstand die Namen, doch als sie sich auf die Brust klopften, wurde die Bedeutung der Worte klar.

Und dann lachte der Marsianer. »Moment!« Tomàs spürte eine Berührung am Kopf, doch keine Hand hatte ihn angefaßt.

»Na bitte!« sagte der Marsianer auf Englisch. »Das ist schon besser!«

»Sie haben meine Sprache gelernt! So schnell?«

»Kleinigkeit!«

Das nun folgende Schweigen machte beide verlegen, und sie schauten auf den Becher Kaffee, den Gomez in der Hand hielt.

»Neu?« fragte der Marsianer und beäugte ihn und den Kaffee und meinte vielleicht beides.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« fragte Tomàs.

 »Bitte.«

Der Marsianer glitt von seiner Maschine.

Ein zweiter Becher wurde hervorgeholt und gefüllt, dampfend voll. Tomàs hielt ihn dem Fremden hin.

Ihre Hände trafen sich — und fuhren wie Nebelschwaden durcheinander hindurch.

»Gott im Himmel!« rief Tomàs und ließ den Becher fallen. »Im Namen der Götter!« sagte der Marsianer in seiner Sprache.

»Haben Sie das gesehen?« flüsterten beide.

Sie waren entsetzt und fröstelten. - Ray Bradbury, Die Mars-Chroniken. München 1974 (Heyne 3410, zuerst 1950)

Begegnung (44)   Ohne daß sie es sich versieht, ist jemand ganz bei ihr, steigt schon die letzte Treppenflucht herunter, die zu dem Absatz führt, auf dem sie stehengeblieben ist. Der Platz ist glücklicherweise nur sehr wenig beleuchtet. Kim weicht sacht in eine völlig dunkle Ecke zurück, wo sie sich an die Wand preßt. Ihr schwarzes Kleid wird ihr dabei helfen, unbemerkt zu bleiben... Zum Glück, denn die Person, die sich nähert, ist zweifellos hinter ihr her, es ist ein hochgewachsener, spitzbärtiger Mann, der einen Spazierstock mit Eisenspitze in der Hand hält. Er trägt einen eleganten, streng geschnittenen Anzug und bewegt sich sicher und geschmeidig: das Rohr kann also nur ein schmückendes oder kriegerisches Attribut sein. Wie er dann Kim gegenübersteht, hat sie momentan den Eindruck, daß es der Alte sei, aber sie erinnert sich sogleich, daß sie ihn getötet hat. Es ist also nur jemand Gleichaltriger, der ihm ähnlich sieht. Er schaut nach rechts und nach links, um zu entdecken, wo sich die Schuldige verbirgt; doch er geht, ohne sie zu sehen, an der Dienerin vorbei, die starr vor Furcht und halb ohnmächtig von der Anstrengung, den Atem zurückzuhalten, in dem Mauerwinkel kauert. - Alain Robbe-Grillet, Die blaue Villa in Hongkong. München 1969 (dtv 548, zuerst 1965)

Begegnung (45)   Der Schiffskörper war gebleicht wie das Gerippe eines am Strande verendeten Walrosses, als hätten die Wellen ihn weißgewalkt. An den Flanken dieser geisterhaften Erscheinung verliefen überall auf und nieder rötliche Rostspuren, während Rahen und Tauwerk wie dick mit Rauhreif bepelztes Geäst wirkten. Nur die Untersegel standen. Einen verwilderten Anblick boten die bärtigen Ausgucker in den Toppen. Sie schienen in Tierfelle gehüllt, so abgerissen und geflickt waren die Kleidungsstücke, die nahezu vier Jahre Fahrt überdauert hatten. In den Ausgucktonnen, die aus eisernen, an den Mast festgenagelten Reifen bestanden, schwankten und schwangen diese Leute über der unauslotbaren Tiefe. Nun kamen wir sechs Toppgäste hoch oben in der Luft, als das Schiff langsam dicht an unser Heck heranschor, einander zwar so nahe, daß wir fast auf die Toppen der andern hätten hinübersetzen können; aber dennoch streiften diese Elendsgestalten uns im Vorübergleiten nur mit einem teilnahmslosen Blick, ohne uns auch nur eines einzigen Wortes zu würdigen.  - (mob)

Begegnung (46)   Beim ersten »Meeting« bleibt die Katze erst einmal cool in der Reserve und sondiert die Situation, wie es sich für einen solitären Einzelgänger ziemt. Der Hund hingegen, mit seinem extrovertierten Rudel-Naturell, unternimmt auf der Stelle einen stürmischen Annäherungsversuch. Diese Aufdringlichkeit wird von der Katze durch einen »Übersetzungsfehler« als feindselige Überschreitung der Intimsphäre (»Fluchtdistanz«) interpretiert. Auch sonst hagelt es leicht Mißverständnisse, weil die gleichen nonverbalen Botschaften im Hündischen und im Kätzischen eine andere Bedeutung tragen. Katzen, dezent wie sie einmal sind, stupsen sich zur Begrüßung mit den Nasen. Der Hund fällt hingegen mit der Tür ins Haus und strebt ohne Umschweife mit der Nase auf den Allerwertesten der Katze zu - ein schwerer Fauxpas aus der anderen Perspektive. Die Katze zeigt zur Warnung die erhobene Pfote, aber das macht den Hund nur noch zudringlicher, denn die erhobene Pfote stellt bei seinesgleichen eine freundliche Geste dar. Der Hund bekommt auch den erregt zuckenden Schwanz der aufgebrachten Katze in den falschen Hals: Schließlich wedeln seine Artgenossen gerade bei freundlich entspannten Begegnungen mit dem Anhang an ihrem Hinterteil. Flieht die Katze schließlich, weil der Klügere ja bekanntlich nachgibt, gibt sie dem »Hetzjäger« Hund damit nur unwillentlich ein fatales Startsignal. Durch einen direkten Frontalangriff einer Katze werden Hunde allerdings in der Regel überrumpelt, weil Katzen schnellere Reaktionszeiten haben und weil ein angreifendes Beutetier einfach nicht in das Schema des Hundes paßt. - Akif Pirinçci, Francis. München 1996 (zuerst 1993)

Begegnung (47)  Kafka hatte noch nicht zu Ende gesprochen und sah auch noch trotzig zu der angelehnten Tür, als sich diese langsam in ihren Angeln drehte und genau das eintrat, was ich geahnt hatte. In jenem abgelegenen Zimmer, wo wir gerade zu Abend aßen, sprangen wir voller Entsetzen auf. Die Spinne oder eigentlich der Männerkopf, der auf seinen langen Beinen federte, kam auf den Tisch zu und sah uns böse an.

«Also», rief ich fast weinend, wie ich gestehen muß, «also, warum tötest du sie denn nicht?»

Doch Kafka sah mit aufgerissenen Augen auf das Tier oder den Mann und rührte keinen Finger; im Gegenteil, er wich unmerklich in eine Ecke des Zimmers zurück. War doch (wie ich später erfuhr) dieser Kopf in der Tat der Kopf seines vor geraumer Zeit verstorbenen Vaters. Der blickte Kafka mit seinem bösesten Ausdruck an, mit blutunterlaufenen und schier verdrehten Augen, die Oberlippe auf der einen Seite grimmig hochgezogen; geradeso wie zu seiner Zeit, als er jene widerlichen Szenen gemacht, derer sich Kafka jetzt genau entsann, und auf unleidlichste Weise seine Stimme erhoben hatte. Nun sagte er nichts, vielleicht weil er nicht konnte, platzte aber schier vor offensichtlichem Verlangen zu schreien. Sein Kopf, Gesicht nach oben, war ein wenig geduckt wie bei einer Kröte. - Tommaso Landolfi, Kafkas Vater, nach (land)

Begegnung (48)

Sei nicht beschämt, wenn dich die Toten streifen,
die andern Toten, welche bis ans Ende
aushielten. (Was will Ende sagen?) Tausche
den Blick mit ihnen, ruhig, wie es Brauch ist,
und fürchte nicht, dass unser Trauern dich
seltsam belädt, so dass du ihnen auffällst.
Die großen Worte aus den Zeiten, da
Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns.
Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.

- Rilke, Requiem für Wolf Graf Kalkreuth, 1908/9

Begegnung (49)  Der Neger sah den betrunkenen Weißen auf sich zutaumeln. Sein erster Gedanke war: Das gibt Ärger! Jedesmal, wenn ich den Müll rausstell, kommt son besoffener weißer Mutterschänder daher und fängt Krach an...

Er war allein. Sein Kollege Jimmy lud unten im Keller gerade die Mülltonnen in den Lastenaufzug. Fat Sam war vermutlich im Kühlraum und holte die Hähnchen fürs Frühstück heraus; dort konnte er einen Hilferuf auch dann nicht hören, wenn die Kühlmaschine abgestellt war. Jimmy unten im Keller würde wahrscheinlich auch nichts hören. Und da vor ihm stand nun dieser weiße Mutterschänder und fummelte nach seiner Kanone wie son Sheriff unten in Alabama. Bevor mir einer hilft, bin ich 'n schöner Engel, sagte sich der Neger.

Er schlang sich das dicke Kabel mit dem metallenen Schaltkasten daran ums Handgelenk. Wenn er die Kanone zieht, knall ich ihm das Ding übern Schädel, dachte er.

Aber dann sah er sich den Weißen genauer an und änderte seine Absicht. Schon das dritte Mal, daß mir 'n Weißer hier mit 'ner Kanone kommt, dachte er. Wenn ich das hier überleb, dann such ich mir 'n annern Job. In 'nem Laden, wo viele Leute arbeiten; so wahr ich Luke Williams heiß.

Der Weiße sah gefährlich aus. Ganz anders als die Besoffenen, die sonst vorbeikamen. Gemein sah er aus. Als ob er 'n Nigger nur so zum Spaß niederknallen könnte. Der Hut klebte an seinem Hinterkopf, und das blonde Haar hing ihm weit in die Stirn. Selbst aus der Entfernung fiel Luke das unnatürlich gerötete Gesicht und der drohende, wirre Blick auf.

Der Weiße blieb direkt vor ihm stehen, die Beine gespreizt, leicht schwankend. Die Hand hatte er immer noch unter dem Mantel. Er sagte kein Wort; er starrte Luke nur aus schwimmenden Augen an. Aus seinem halboffenen Mund quoll Whiskydunst.

Luke begann trotz des dünnen Baumwollkittels zu schwitzen. Nach zwanzig Jahren Nachtdienst weiß man, was einem hier nachts alles zustoßen kann, wenn man schwarz ist, auf alle Fälle.

«Hörn Sie, Mann, ich will kein Ärger nich!» sagte er beschwörend.

«Keine Bewegung!» fuhr ihn der Weiße lallend an. «Ein Muckser, und du bist tot!»

«Ich rühr mich ja gar nich», sagte Luke.

«Was haste da in der Hand?»

«Nur den Schalter fürn Aufzug», antwortete Luke nervös.

Der Weiße zog langsam den Revolver unter dem Mantel hervor und zielte auf Lukes Magen. Es war ein .38er Police Special.

Lukes Stimme klang verzweifelt. «Ich bin doch nur rausgekommen, weil ich'n Aufzug mit'm Müll raufholn will.» - Chester Himes, Lauf, Nigger, lauf. Reinbek bei Hamburg 1968 (zuerst 1966)

Begegnung (50)    Eine junge Frau, womöglich eine Prinzessin, bog an diesem Frühlingsmorgen mit einer Schubkarre voller Äpfel, die sie hinter sich her zog, in die Avenue des Champs-Elysées ein. In Höhe des Rond-Point lachte sie plötzlich laut auf und sagte: „Es liegt etwas in der Luft."

Wie um das zu bestätigen, fiel - oder besser: landete - vor ihren Füßen eine Remington-Schreibmaschine und begann zu klappern, als schlüge jemand die Tasten an. Die junge Frau - sie war in Wirklichkeit die Gemahlin eines ehemaligen Ministers, Madame de Freycinet - war ein wenig überrascht; dennoch ging sie weiter. Kaum hatte sie hundert Meter zurückgelegt, als von einer Gaslaterne ein Leiervogel

herabflog und sich auf die Äpfel setzte. Im selben Augenblick flogen die Pflastersteine vom Boden auf, und eine riesige Pfeife erschien; dieser Pfeife entstieg eine einäugige Negerin, die rief:

„Hauptmann ... Hauptmann!"

Madame de Freycinet nahm Haltung an und sagte, militärisch grüßend:

„Mein Kind, du hast dich um das Vaterland verdient gemacht." Und sie gab ihr den Leiervogel, der, wütend darüber, daß er die Schubkarre verlassen sollte, sich die Lunge aus dem Hals kläffte. Die Negerin grüßte ihrerseits militärisch, hackte sich die Zehen ihres linken Fußes ab und legte sie an den Platz des Leiervogels, der endlich ruhig geworden war und sich auf ihren. Kopf gesetzt hatte.

Doch damit waren Madame de Freycinets Abenteuer noch nicht zu Ende. In Höhe der Select-Bar blieb sie eine Weile stehen, um zu verschnaufen, denn seltsamerweise schien sich das Gewicht der Schubkarre, seit die Negerin ihre Zehen hineingelegt hatte, verdoppelt zu haben. Sie sagte zu sich:

„Was für ein Wetter! Es ist wunderbar warm, und alle Uhren zeigen sieben Uhr. Dabei habe ich die Place de la Concorde um Mittag verlassen. Das ist doch unmöglich." Kaum war ihr dies durch den Kopf gegangen, als die Select-Bar sich auf sie zu bewegte und sie wie ein Tier verschlang, während ein General in Galauniform mit vorgestreckten Armen aus einem Fenster im ersten Stock stürzte. Einen Meter über dem Boden richtete er sich auf, und von einer ungeheuren Kraft getrieben, erhob er sich senkrecht in die Luft und verschwand in Richtung Place de l'Étoile.

Zwölf Jahre später sollte man ihn am Nordpol wiederfinden. Man nannte ihn „Herr Vaterland". - Benjamin Péret, Eine blaublütige Geschichte. In: Nautilus Literarischer Taschenkalender 1988. Hamburg 1987

Begegnung (51)   Ich gewahrte  eine kleine Schar Männer am jenseitigen Ufer, die durch das sandige Flußbett herüberkamen: die Blauäugigen. Gesenkten Hauptes schritten sie an mir vorbei. Zuerst ein gebücktes Wesen mit einem vielfach gefurchten, wie zersprungenen Gesicht, als wäre es tausend Jahre alt. Von dem ungewöhnlich hohen Schädel fielen lange schlichte Silbersträhnen. Es kam mir einen Augenblick, in den Sinn, es könne eine Frau sein. Dann die andern! Lauter hohe, abgezehrte Gestalten. Der letzte, ein wenig größer und aufrechter schreitend, blickte sich nach mir um. Ich schaute in das schönste Gesicht, das ich je gesehen habe, das Antlitz Pateras ausgenommen.

Wie aus Porzellan geformt, war das reine Eirund des Kopfes. Mit den durchsichtig dünnen Nasenflügeln, dem schmalen, etwas eingedrückten Kinn kam mir der Mann wie ein überfeinerter Mandschuprinz oder wie ein Engel aus einer buddhistischen Legende vor. Seine schlanken, langen Gelenke sprachen von äußerster Entwicklung der Rasse. Alles Haar war abgeschabt, und vollkommen glatt spannte sich seine Haut. Mit einem unvergleichlichen Blick aus seinen blauen Augen sah er mich an. Das konnte keine Zurückweisung sein — ich folgte ihm nach. - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

Begegnung (52)  Eines Nachts in einem kreischen Unsturm taste ich mich im Stockdunkel, von Gischt gegeisselt, voran am Geländer der Mole - da, ich stosse mit einem Etwas zusammen, kann nicht weiter.. das Leuchtfeuer dreht, kommt heran, reisst mich in seinen Lichtkegel, ich sehe ein Mann, ein Matrose?.. Das war Heinrich Hauser. Sie kennen vielleicht ›Brackwasser‹, seine ›Letzten Segelschiffe‹, ›Notre Dame von den Wogen‹ - ich habe ihn in die Literatur hineingebracht, möchte sagen verstossen,- was er schrieb, blieb mir fremd, aber er war ein getriebener Mensch, er wollte wie Sie sich auf Reisen »wiederfinden«, aber findet, so werdet ihr suchen!... Wir zogen nach Hamburg, mitten in den Hafen, in jene wüste Pension, die er in ›Donner überm Meer‹ mit soviel Optik beschrieben hat. Schnell berühmt, wurde er Journalist und ging schnellstens zugrunde. Er soff und hurte, was ich beides verachte, fühlte sich »entwurzelt«; da meinte ich, das beste wäre, er scheide aus dem Leben. Das tat er. Vorher reiste er noch zu O' Flaherty nach Irland und drehte den herrlichen Filrn von den Aran-Inseln. - Hans Jürgen von der Wense, Von Aas bis Zylinder, Bd. I. Frankfurt am Main 2005

Begegnung (53)  Das Gewehr im Anschlag, warteten wir auf dem Strand. Nach Sonnenuntergang tauchten aus dem Wasser verhältnismäßig große, etwas abgeflachte Molchköpfe auf, und bald kamen die Tiere ganz auf das sandige Ufer heraus. Sie gingen auf den Hinterfüßen, in wiegender Gangart, aber ziemlich rasch. Sitzend waren sie etwas über einen Meter groß. Sie ließen sich in einem weiten Kreis nieder und versetzten die Oberkörper in eine eigenartige, kreisende Bewegung. Man hatte den Eindruck, als ob sie tanzten. W. KLEINSCHMIDT erhob sich ein wenig, um besser zu sehen. Sofort wandten die Molche die Köpfe nach ihm. Zunächst saßen sie wie erstarrt, dann kamen sie mit beträchtlicher Geschwindigkeit auf ihn zu, wobei sie zischende und bellende Laute ausstießen. Als sie auf etwa sieben Schritt herangekommen waren, schossen wir. Sie machten sich schleunigst auf die Flucht und stürzten sich ins Meer. An diesem Abend ließen sie sich nicht mehr blicken. Auf dem Strand blieben nur zwei tote Molche und ein Tier mit zerschmettertem Rückgrat zurück, das sonderbare Laute von sich gab, die wie »ogod, ogod, ogod« klangen. Als W. KLEINSCHMIDT später seine Lungenhöhle mit dem Messer öffnete, verendete es. - (mol)

Begegnung (54) Sie schaute sich um, sie hatte ein sehr weißes Gesicht mit Sommersprossen, und ging langsam wie früher weiter. Ich wurde auf einmal sehr erregt, weil ich wußte, daß ich sie ansprechen würde. So gingen wir, einmal fast nebeneinander, dann sie vor mir, dann überholte ich sie, bis zum Broadway hinunter. Schließlich wurde ich so erregt, daß ich sie auf der Straße niederwerfen wollte. Als ich sie dann aber ansprach, fragte ich sie nur, ob sie mit mir etwas trinken gehe.

Sie sagte: »Warum nicht ?«, aber es war schon vorbei. Beide noch rot im Gesicht von der Erregung, mit der wir uns gerade aufeinander zu bewegt hatten, gingen wir nun nebeneinander her. Wenn wir sofort schneller gegangen wären, als hätten wir ein Ziel, hätte vielleicht die schnelle Bewegung uns noch mehr erregt und gleich in einen Hauseingang getrieben; so aber gingen wir nur weiter, kaum weniger langsam als früher, und mußten noch einmal von vorn anfangen. Trotzdem versuchte ich sie anzufassen. Sie nahm es wie ein Versehen.

Wir kamen in eine Cafeteria, in der man sich selbst bedienen mußte. Ich wollte wieder weggehen, aber sie hatte sich schon angestellt. Ich nahm auch ein Tablett und legte ein Sandwich darauf. Wir setzten uns an einen Tisch, ich aß das Sandwich, sie trank einen Milchkaffee. Sie fragte mich nach meinem Namen, und ohne daß ich wußte, warum ich log, antwortete ich, daß ich Wilhelm hieß. Darauf fühlte ich mich sofort wohler und bot ihr einen Bissen von meinem Sandwich an. Sie brach mit der Hand etwas ab. Nach einiger Zeit stand sie auf, sagte, sie hätte Kopfweh, winkte mir zu und ging hinaus. - Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main 1972

Begegnung (55)

Die Gründe für das Massaker sind im 13. Jahrhundert zu suchen.
Das las ich heute morgen beim Frühstück.

Daß die Bienen nicht taub sind, sondern mit den Fühlern hören,
verlautete aus Stanford in Kalifornien.

Die Krawatten werden neuerdings wieder etwas breiter getragen;
das bewies mir eine Postwurfsendung aus 33102. Paderborn.

Die Zeit sei kein Parameter, sondern ein Operator,
eröffnete mir mein Freund, der Philosoph.

Erkenntnisse, an einem einzigen Dienstag gewonnen.
Ich trug sie der Katze des Nachbarn vor.

Ihre lohfarbenen Streifen glommen in der Sonne.
Sie hielt ihre Augen auf mich geheftet.

Ich fühlte, daß ihr Fell elektrisch geladen war.
Es war offenbar, daß sie mich wiedererkannte.

Und doch bewohnte sie ein anderes Universum als ich.
So schien es mir. Sie maunzte,

aber was sie über die Materie wußte,
über Raum und Zeit, das verriet sie nicht.

Eine Metaphysik streifte die andere,
als ich meinen Bückling mit ihr teilte.

Unsere Ratschlüsse, ihre und meine,
so schien es mir, waren reziprok

unerforschlich wie die der Götter.

 - Hans Magnus Enzensberger, Kiosk. Neue Gedichte. Frankfurt am Main 1997 (zuerst 1995)

[Begegnung 1-21], [Begegnung 56 - ]

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