allett  Die großen Städte Indiens sind ein einziges Elendsviertel; aber das, dessen wir uns wie eines Schandflecks schämen, das wir als Aussatz betrachten, bildet hier die auf ihren letzten Ausdruck reduzierte Urbanität: Zusammenballung von Individuen, deren Daseinsgrund einzig darin besteht, sich millionenfach zusammenzuballen, unter welchen äußeren Bedingungen auch immer. Schmutz, Unordnung, Promiskuität, enge Berührung; Ruinen, Baracken, Schlamm, Unrat; Kot, Urin, Ausdünstungen, Schweiß: dies alles, gegen das uns das urbane Leben die organisierte Verteidigung zu sein scheint, alles, was wir hassen und wovor wir uns zu so hohem Preis schützen, alle diese Nebenprodukte des Zusammenlebens sind hier niemals seine Grenze. Sie bilden vielmehr das natürliche Milieu, das die Stadt braucht, um zu gedeihen. Jedem Individuum bietet die Straße, ob Pfad oder Gasse, ein Zuhause, wo er sich hinsetzt, schläft, seine Nahrung aus klebrigem Unrat klaubt. Dieser stößt ihn nicht ab, sondern erwirbt vielmehr eine Art häuslichen Status allein dadurch, daß so viele Menschen ihn ausgeschwitzt, ausgeschieden, mit Füßen getreten und in Händen gehabt haben. Jedesmal, wenn ich mein Hotel in Kalkutta verlasse, das von den Kühen umlagert wird und dessen Fenster den Aasgeiern als Sitzstange dienen, werde ich zum Mittelpunkt eines Balletts, das ich sicher sehr komisch finden würde, wenn es nicht so viel Mitleid erregte. Es lassen sich mehrere Auftritte erkennen, jeweils von einem Star verkörpert:

der Schuhputzer, der sich mir zu Füßen wirft;
der kleine näselnde Junge, der auf mich zu stürzt: one anna, papa, one anna;
der Krüppel, der fast nackt ist, damit man seine Stummel besser sehen kann;
der Kuppler: Bntish girls, very nice . . .;
der Klarinettenhändler;
der Hausierer von New-Market, der mich anfleht, ihm alles abzukaufen, nicht weil er unmittelbar daran interessiert wäre, sondern weil die Annas, die er verdient, indem er mir folgt, es ihm ermöglichen werden, zu essen. Er betet den Katalog mit einer Begehrlichkeit her, als wären alle diese Güter für ihn bestimmt: Suit-cases? Shirts? Hose? . . .

Und schließlich die ganze Truppe der kleinen Rollen: Anwerber für Rikschas, Gharnes, Taxis. Zwar stehen drei Meter weiter am Trottoir entlang so viele Taxis, wie man nur will. Aber wer weiß? Vielleicht bin ich ja eine so hochgestellte Persönlichkeit, daß es unter meiner Würde ist, sie zu bemerken . . . Ganz abgesehen von der Kohorte der Straßenhändler, Verkäufer, Ladenbesitzer, denen mein Kommen das Paradies verspricht: ich könnte ihnen vielleicht etwas abkaufen.

Möge derjenige, der darüber lachen oder sich ärgern möchte, sich davor hüten wie vor einem Sakrileg. Es wäre sinnlos, diese grotesken Gesten, diese fratzenhaften Verhaltensweisen zu zensieren, und kriminell, sie zu verspotten, statt in ihnen die klinischen Symptome eines Todeskampfs zu sehen. Eine einzige Zwangsvorstellung, der Hunger, diktiert diese verzweifelten Schritte; jener Hunger, der die Menschen in Scharen aus den Dörfern treibt und Kalkutta innerhalb weniger Jahre von zwei auf fünf Millionen Einwohner hat anwachsen lassen; der die Flüchtigen in die Sackgasse der Bahnhöfe schwemmt, wo man sie vom Zug aus nachts auf den Bahnsteigen schlafen sieht, eingehüllt in das weiße Baumwolltuch, das heute ihre Kleidung bildet und morgen ihr Totenhemd sein wird; und der dem Blick des Bettlers seine tragische Intensität verleiht, wenn er durch das Metallgitter des Erste-Klasse-Abteils dem meinen begegnet, ein Gitter, das mich - wie auch der auf dem Trittbrett hockende bewaffnete Soldat - vor der stummen Forderung eines Einzelnen schützen soll, der sich in eine brüllende Meute verwandeln könnte, wenn das Mitgefühl des Reisenden über die Vorsicht siegen und in diesen Verdammten die Hoffnung auf ein Almosen schüren würde. - (str2)

Ballett (2)  Alles, was irgendwie an das Massaker erinnerte, berührte einen wunden Punkt im Unterbewußtsein aller Weißen, und der blonde junge Mann stand nicht allein mit seiner Wut. Er stürzte sich auf den schwarzen Bruder und schlug ihn hart ins Gesicht. Die schwarzen Leute, die um ihn herumstanden, begriffen nicht, warum der Weiße plötzlich so wütend geworden war, denn der Schwarze hatte nichts als die Wahrheit gesagt, doch keiner von ihnen wollte sich in einen Streit mischen, der, so glaubten sie, mit dem Austausch von ein paar Beleidigungen vorüber sein würde.

Der Schwarze jedoch schlug nicht mit Worten zurück, sondern griff zur Gewalt. Er riß ein Klappmesser aus der Uhrentasche seiner Jeans und hieb damit nach der Kehle des Weißen. Der Weiße riß den Kopf rechtzeitig zurück und wurde nicht ernsthaft verletzt, doch die Klinge ritzte sein Kinn. Blut strömte über sein weißes Hemd und sein Leinenjacket. Frauen kreischten.

Ein breitärschiger Polizist mit einem Bierbauch, der über seinen Patronengürtel hing, und bis zu den kurzen Ärmeln seines blauen Hemds haarigen Armen stieß die Leute zur Seite, um zu dem Tumult zu gelangen. Die Schwarzen starrten ihn feindselig an. Dann sah er den blutüberströmten Weißen mit scheinbar aufgeschlitzter Kehle und den Schwarzen, der mit dem Messer durch die Luft hieb, um ihn in Schach zu halten. Er zog seinen .38er Polizeirevolver aus dem Holster an seiner Hüfte. Vielleicht hatte er die Absicht, den Schwarzen zu erschießen, vielleicht auch nicht. Doch ein anderer Schwarzer glaubte, daß er diese Absicht hatte, und schlug ihm den Revolver aus der Hand. Der Polizist holte mit dem linken Arm zum Schlag aus. Der schwarze Bruder rang mit dem Cop. Sie schwankten eine Zeitlang hin und her und fielen dann zu Boden. Als der Polizist versuchte, nach seinem Revolver zu greifen, der nur wenige Zentimeter von seiner ausgestreckten Hand entfernt lag, stieß der Schwarze die Waffe aus seiner Reichweite. Verbissen kämpfend wälzten sie sich am Boden. Eine schwarze Schwester sah den Revolver liegen, hob ihn mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung auf und steckte ihn in ihre Handtasche. Was dabei in ihrem Kopf vorging, würde nie jemand erfahren, denn sie bewegte sich rasch fort. Eine weiße Frau, die gesehen hatte, wie sie die Waffe aufgehoben und eingesteckt hatte, lief ihr nach und rief: »Sie hat die Pistole des Polizisten ... sie hat seine Pistole aufgehoben ...« Ein paar Weiße blickten sie unentschlossen an, sahen dem sich entfernenden Rücken der schwarzen Frau nach, zuckten die Schultern und wandten sich wieder dem Kampf zu.

Andere weiße Männer standen ihrem blutenden Kameraden bei und versuchten, den Schwarzen mit dem Messer zu bändigen, doch da sie alle unbewaffnet waren, sprang der Schwarze auf sie zu und schlug grinsend mit dem Messer nach ihnen. Die Weißen sprangen behend zurück und duckten sich geschickt. Das Ganze erweckte den Eindruck eines temperamentvollen Balletts, bei dem der Schwarze die Rolle einer zornigen Frau tanzte, die versucht, ihren unbeständigen, untreuen Liebhabern, den weißen Männern, das Zeichen der Untreue einzuritzen. Doch es war kein harmloser Tanz, und zwei der Weißen, die im Ausweichen nicht geschickt genug waren, wurden im Gesicht verwundet.

Keiner der Männer war ernsthaft verletzt, doch ihr kostbares rotes amerikanisches Blut floß so reichlich, daß es aussah, als würden sie von einem schwarzen Wilden in Stücke gehackt.

Die weißen Zuschauer waren entsetzt. »Polizei! Polizei!« schrien sie zur Belustigung der schwarzen Zuschauer, die aus Erfahrung wußten, daß es gar nicht so viel Blut war, das hier vergossen wurde.

Zwei der zahlreichen Polizisten, die die Zuschauermenge überwachten, wurden schließlich auf die Schlägerei aufmerksam und versuchten heldenhaft, sich durch das Gedränge zu schieben, um ihre Pflicht zu tun.

Glücklicherweise hatte ein junger, athletischer weißer Mann, der wie ein Arbeiter aussah, so viel Geistesgegenwart, hinter den Schwarzen zu schlüpfen und ihn an den Beinen zu packen. Für diese beau geste bezahlte er mit einer aufgeschlitzten Kopfhaut, doch wenigstens brachte er so den schwarzen Angreifer zu Fall, und er konnte entwaffnet werden.

»Nehmt ihm das Messer ab!« rief eine weiße Frau. »Nehmt ihm das Messer ab!« Es war die gleiche Frau, die gesehen hatte, wie die schwarze Schwester mit dem Revolver des ersten weißen Cops weggegangen war, und sie sprach mit einer gewissen Autorität. »Nehmt ihm sein Messer ab!«

Dem blonden jungen Mann mit dem aufgeschlitzten Kinn gelang es nicht nur, das Messer an sich zu bringen, er hielt es dem Schwarzen vors Gesicht und drohte, ihm die Eier abzuschneiden und die Eichhörnchen damit zu füttern.   - Chester Himes, Plan B. Berlin 1994 (Alexander Verlag, zuerst 1993)

Ballett (3)   Wir waren schon weit vor den eigenen Linien. Von allen Seiten pfiffen uns Geschosse um die Stahlhelme oder zerschellten mit hartem Knall am Grabenrand. Jedesmal, wenn einer der eiförmigen Eisenklumpen über der Horizontlinie auftauchte, wurde er vom Auge mit jener Hellsichtigkeit erfaßt, deren der Mensch nur der Entscheidung auf Leben und Tod gegenüber fähig ist. Während dieser Augenblicke der Erwartung mußte man einen Standort zu gewinnen suchen, von dem aus möglichst viel vom Himmel zu sehen war, denn nur gegen seinen blassen Hintergrund zeichnete sich das schwarze Riffeleisen der tödlichen Bälle mit genügender Schärfe ab. Dann warf man selbst und sprang vor. Den zusammengesackten Körper des Gegners streifte kaum ein Blick; der hatte ausgespielt, ein neues Duell begann. Der Handgranatenwechsel erinnert an das Florettfechten; man muß dabei Sprünge machen wie beim Ballett. Er ist der tödlichste der Zweikämpfe, der nur dadurch, daß einer der beiden Gegner in die Luft fliegt, beendet wird. Auch daß beide fallen, kann vorkommen.

Ich konnte während dieser Minuten die Toten, über die ich bei jedem Sprung hinwegsetzte, ohne Schauder sehen. Sie lagen alle in der entspannten und weich hingegossenen Haltung da, die den Augenblicken eigentümlich ist, in denen das Leben sich verabschiedet. - Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Stuttgart 1985 (zuerst 1920)

Ballett (4)
Tanzen
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