Autobiograph  Nur noch geringe Hoffnung, mit meiner Aufgabe jemals fertig zu werden. Ich vermute jetzt, daß die Arbeit des Meisters ein Täuschungsmanöver ist. In keinem seiner beiden Manuskripte, in dem aus der ehemaligen Küche ebensowenig wie in dem, das er mich entziffern läßt, bemüht er sich, die wirklichen Fakten einzukreisen. Er spielt absichtlich mit den Widersprüchen, gefällt sich darin die Fährten zu verwirren, leugnet an der einen Stelle, was er an der ändern gerade behauptet hat, verschiebt auf später eine Erklärung, von der er genau weiß, daß er sie nicht geben wird. Wen will er täuschen? Nichts von allem, was ich bisher gelesen habe, zeigt es mir an. Ich habe an seine große Schwierigkeit geglaubt, objektiv zu sein, an die Qual, die daraus entspringt. Ich habe midi getäuscht. Das Wort Sonderling, von einer fixen Idee Besessener, das sein früherer Freund und Sekretär hatte fallen lassen, stimmt wahrscheinlich. Wenn ich meinen Posten behalte, dann sollte ich  keine weiteren Anstrengungen machen, in die Anhäufung von Ungereimtheiten und Widerrufen, von Bruchstücken und Verbesserungen Licht zu bringen, sondern sollte versuchen einen abdriftenden Geist zu durchschauen, wenn nicht sogar zu heilen. Das wird für mich umso schwieriger sein, als ich weiter auf den Anschein von Wahrheit hereinfallen werde, der von den verschiedenen Zeugenaussagen seiner Freunde und Bekannten ausgeht. Mein Vorsatz muß sein, nicht eine auf die Ereignisse sich beziehende Überzeugung daraus zu gewinnen, sondern nach und nach die dunklen Zwangsvorstellungen aufzudecken, die den Meister zu dem gemacht haben, der er jetzt ist. - Robert Pinget, Der Feind. Berlin 1988

Autobiograph (2) 
Wer da?
    Ich, Monsieur.
    Kommen Sie herein.
    Ich möchte Sie nicht stören ...
    Bereits geschehen. Reden Sie.
    Es ist wegen Ihres Sekretärs.
Er hat mir anvertraut. ..
    Mein Sekretär? Welcher Sekretär?
Nun . .. der junge Mann, der Ihre Memoiren durchsieht.
Er hat mir anvertraut. ..
Was erzählen Sie da? Von wem reden Sie? Was für ein junger Mann?
    Der mit Ihnen donnerstags an der zweiten Fassung Ihrer Memoiren arbeitet, ich träume nicht, hier ist sie.
    Was bedeutet das? Was sind das für Papiere?
    Er gibt sie für die zweite Fassung aus ... an der er
mit Ihnen arbeitet und derentwegen er mich gebeten hat. ..
    Genug, Monsieur, genug. Das ist ein Betrug. Ich arbeite allem, empfange niemanden.
Es gibt nur eine Fassung, eine einzige, meine eigene, haben Sie verstanden? Lassen Sie diese Schmierereien hier, ich werde den entsprechenden Gebrauch davon machen, und haben Sie die Freundlichkeit und verschwinden Sie.
    Ich ... ich wußte nicht.. . ich konnte nicht ahnen ... ich bitte Sie ...
    Machen Sie, daß Sie wegkommen.

Dem Kranken bleibt nur noch, die Elaborate des Fälschers zu lesen. Wie hat dieser Fremde die Memoiren einsehen können? Durch welche Taktik, welche List? Und warum hat er die angebliche zweite Fassung einem Dritten anvertraut, der doch mit allen Mitteln versuchen würde, etwas über die erste zu erfahren, also Kontakt mit dem Autor aufzunehmen? Durch welche Machenschaften?
Je mehr Seiten des Textes er umblättert, desto verblüffter ist der Meister von dem Geschick des Schreibers, den Stil des Originals nachzuahmen. Er ist wieder in seine eigenen Ticks getaucht, sein Zögern, seine Widersprüche. Wieviele Jahre sind damit vergangen, seine Erinnerungen zu sammeln und zu reinigen, ihnen einen geliehenen Glanz zu geben, sich all seinen Verrücktheiten zu überlassen. Der Herrensitz, die Dienerschaft, der gesellschaftliche Verkehr, so viel phantasierte Größe ...
Er hebt den Kopf und blickt durchs Fenster. Die Reihe verkümmerter Pflaumenbäume, das Feld voller Brennesseln, das Wellblech eines Daches.
    Große Nostalgie.
    Er wird diese trügerische Schrift zerstören bevor er die seine zerstört, die jetzt in seinen Augen jeden Wert verloren hat.
    Er wird noch ein paar Jahre weiterleben, zwischen seinem Zimmer und seinem Hühnerhof hin- und hergehen, als einzigen Trost den Gedanken, daß die von allen vergessene Kriminalaffäre ihr Geheimnis ebensowenig preisgegeben hat wie seine Qual, seine Zwangsvorstellungen das ihre.
    Endlich Nacht.-  - Robert Pinget, Der Feind. Berlin 1988

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VB
Selbst


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