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bur
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Ausschweifung (2) Sexuelle Maßlosigkeit ist
verhängnisvoll. Galen rechnet die Melancholie unter die Krankheiten,
die durch Fleischeslust verschlimmert werden, und Avicenna, Oreibasios
und andere geben ihm darin recht. Als Grund gibt Magninus an, sie
kühle und trockne den Körper aus und verzehre die Lebensgeister. Deshalb
sollten sich alle, deren Naturell kalt und trocken ist, davor in acht nehmen
und den Verkehr wie einen Todfeind meiden. Jacchinus beruft sich
in diesem Zusammenhang auf den Fall eines Mannes, der in einem heißen Sommer
ein junges Weib geehelicht hatte und sich bei seinen
Schlafzimmerwerkeleien so ausdörrte, daß er über
ein Kurzes melancholisch wurde. Er heilte ihn mit Feuchtkuren. Analoges
weiß Laelius à Fonte Eugubinus von einem Venezianer zu berichten,
der aus nämlicher Ursache zuerst in Melancholie, dann in Irrsinn verfiel.
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bur
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Ausschweifung (3) Die winzigen Enthaltsamkeiten,
die einem nach und nach durch die Jahre auferlegt werden: der Verzicht auf Tabak,
Alkohol, kräftige Speisen etc., haben gewisse Auswirkungen auf die »Kreativität«,
wie man sich heutzutage auf wenig elegante Weise auszudrücken pflegt. Hin und
wieder eine Ausschweifung im Kreislauf der irdischen Säfte, eine verschwenderische
Großzügigkeit im physiologischen Austausch sind eine der Voraussetzungen für
die optimale Leistungsfähigkeit des Künstlers, und was man Natur nennt,
ist nicht nur bei ihm eine Frage von Sensibilität, Einbildungskraft und Charakter.
Irgendwo liegt in jedem künstlerischen Hochleistungsmotor ein großer Esser verborgen,
dessen können Sie sicher sein — selbst wenn das, was er an Aufnehmbarem verzehrt,
manchmal schwer identifizierbar oder gar anstößig ist.- (
grac
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Ausschweifung (4) Was pflegen
doch die Anhänger Schopenhauers
in Deutschland von ihrem Meister zuerst anzunehmen ? ~ als welche, im
Vergleich zu dessen überlegener Kultur, sich barbarenhaft genug vorkommen müssen,
um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fasziniert und verführt zu werden. Ist
es sein harter Tatsachen-Sinn, sein guter Wille zur Helligkeit
und Vernunft, der ihn oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen läßt?
Oder die Stärke seines intellektuellen Gewissens; das einen lebenslangen
Widerspruch zwischen Sein und Wollen aushielt und ihn dazu zwang, sich auch
in seinen Schriften beständig und fast in jedem Punkte zu widersprechen ? Oder
seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christlichen Gottes? — denn
hierin war er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so daß er „als Voltairianer"
lebte und starb. Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellektualität der
Anschauung, von der Apriorität des Kausalitätsgesetzes, von der Werkzeug-Natur
des Intellekts und der Unfreiheit des Willens? Nein, dies alles bezaubert nicht
und wird nicht als bezaubernd gefühlt: aber die mystischen Verlegenheiten und
Ausflüchte Schopenhauers, an jenen Stellen, wo der Tatsachen-Denker sich vom
eitlen Triebe, der Enträtseler der Welt zu sein, verführen und verderben ließ,
die unbeweisbare Lehre von einem Willen („alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen
der Erscheinung des Willens Zu dieser Zeit, an diesem Orte", „der
Wille zum Leben ist in jedem Wesen, auch dem geringsten, ganz und ungeteilt
vorhanden, so vollständig, wie in allen, die je waren, sind und sein werden,
zusammengenommen"), die Leugnung des Individuums („alle Löwen sind im Grunde
nur ein Löwe", „die Vielheit der Individuen ist ein Schein"; sowie
auch die Entwicklung nur ein Schein ist: — er nennt
den Gedanken de Lamarcks „einen genialen, absurden Irrtum", die
Schwärmerei vom Genie („in der ästhetischen Anschauung
ist das Individuum nicht mehr; Individuum, sondern reines, willenloses,
schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis"; „das Subjekt, indem
es in dem angeschauten Gegenstande ganz aufgeht, ist dieser Gegenstand selbst
geworden"), der Unsinn vom Mitleide und der in
ihm ermöglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle
aller Moralität, hinzugerechnet solche Behauptungen: „das Sterben
ist eigentlich der Zweck des Daseins", „es läßt sich a priori nicht geradezu
die Möglichkeit ableugnen, daß eine magische Wirkung
nicht auch sollte von einem bereits Gestorbenen ausgehen
können": diese und ähnliche Ausschweifungen und Laster des Philosophen
werden immer am ersten angenommen und zur Sache des Glaubens gemacht: — Laster
und Ausschweifungen sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und
wollen keine lange Vorübung. - Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882)