usschweifung Wenngleich ich von Haus aus Theologe bin, drängte mich mein unbeständiger, sprunghafter, ausschweifender Geist dazu, mich in allen Disziplinen umzutun, mir ein breites Allgemeinwissen zu erwerben, aber mich nirgendwo als Spezialist hervorzutun, wie im übrigen schon Platon empfiehlt, woraus wiederum Lipsius folgert, daß es jedem Wißbegierigen gut anstünde, nicht Sklave einer Wissenschaft zu werden oder sich wie die meisten auf einem Forschungsgebiet anzusiedeln, sondern umherzustreifen als Diener von hundert Künsten, ein Ruder in jedem Boot zu haben, jede Speise zu kosten, an jedem Becher zu nippen, was nach Montaigne von Aristoteles ebenso praktiziert wurde wie von seinem gelehrten Landsmann Adrian Turnebus. Eben dieses unstete Wesen, das mir allerdings nicht zu vergleichbaren Erfolgen verholten hat, habe ich von jeher besessen, und wie ein herumstöbernder Spaniel, der jeden Vogel verbellt, den er sieht, und darüber seine Beute vergißt, bin ich allem hinterher, nur nicht meinen eigentlichen Pflichten, und kann mich wahrlich mit Seneca beklagen, daß der, der überall ist, nirgendwo weilt. - (bur)

Ausschweifung (2) Sexuelle Maßlosigkeit ist verhängnisvoll. Galen rechnet die Melancholie unter die Krankheiten, die durch Fleischeslust verschlimmert werden, und Avicenna, Oreibasios und andere geben ihm darin recht. Als Grund gibt Magninus an, sie kühle und trockne den Körper aus und verzehre die Lebensgeister. Deshalb sollten sich alle, deren Naturell kalt und trocken ist, davor in acht nehmen und den Verkehr wie einen Todfeind meiden. Jacchinus beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Fall eines Mannes, der in einem heißen Sommer ein junges Weib geehelicht hatte und sich bei seinen Schlafzimmerwerkeleien so ausdörrte, daß er über ein Kurzes melancholisch wurde. Er heilte ihn mit Feuchtkuren. Analoges weiß Laelius à Fonte Eugubinus von einem Venezianer zu berichten, der aus nämlicher Ursache zuerst in Melancholie, dann in Irrsinn verfiel. - (bur)

Ausschweifung (3) Die winzigen Enthaltsamkeiten, die einem nach und nach durch die Jahre auferlegt werden: der Verzicht auf Tabak, Alkohol, kräftige Speisen etc., haben gewisse Auswirkungen auf die »Kreativität«, wie man sich heutzutage auf wenig elegante Weise auszudrücken pflegt. Hin und wieder eine Ausschweifung im Kreislauf der irdischen Säfte, eine verschwenderische Großzügigkeit im physiologischen Austausch sind eine der Voraussetzungen für die optimale Leistungsfähigkeit des Künstlers, und was man Natur nennt, ist nicht nur bei ihm eine Frage von Sensibilität, Einbildungskraft und Charakter. Irgendwo liegt in jedem künstlerischen Hochleistungsmotor ein großer Esser verborgen, dessen können Sie sicher sein — selbst wenn das, was er an Aufnehmbarem verzehrt, manchmal schwer identifizierbar oder gar anstößig ist.- (grac)

Ausschweifung (4)  Was pflegen doch die Anhänger Schopenhauers in Deutschland von ihrem Meister zuerst anzunehmen ? ~ als welche, im Vergleich zu dessen überlegener Kultur, sich barbarenhaft genug vorkommen müssen, um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fasziniert und verführt zu werden. Ist es sein harter Tatsachen-Sinn, sein guter Wille zur Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen läßt? Oder die Stärke seines intellektuellen Gewissens; das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollen aushielt und ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Punkte zu widersprechen ? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christlichen Gottes? — denn hierin war er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so daß er „als Voltairianer" lebte und starb. Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellektualität der Anschauung, von der Apriorität des Kausalitätsgesetzes, von der Werkzeug-Natur des Intellekts und der Unfreiheit des Willens? Nein, dies alles bezaubert nicht und wird nicht als bezaubernd gefühlt: aber die mystischen Verlegenheiten und Ausflüchte Schopenhauers, an jenen Stellen, wo der Tatsachen-Denker sich vom eitlen Triebe, der Enträtseler der Welt zu sein, verführen und verderben ließ, die unbeweisbare Lehre von einem Willen („alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen der Erscheinung des Willens Zu dieser Zeit, an diesem Orte", „der Wille zum Leben ist in jedem Wesen, auch dem geringsten, ganz und ungeteilt vorhanden, so vollständig, wie in allen, die je waren, sind und sein werden, zusammengenommen"), die Leugnung des Individuums („alle Löwen sind im Grunde nur ein Löwe", „die Vielheit der Individuen ist ein Schein"; sowie auch die Entwicklung nur ein Schein ist: — er nennt den Gedanken de Lamarcks „einen genialen, absurden Irrtum", die Schwärmerei vom Genie („in der ästhetischen Anschauung ist das Individuum nicht mehr; Individuum, sondern reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis"; „das Subjekt, indem es in dem angeschauten Gegenstande ganz aufgeht, ist dieser Gegenstand selbst geworden"), der Unsinn vom Mitleide und der in ihm ermöglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle aller Moralität, hinzugerechnet solche Behauptungen: „das Sterben ist eigentlich der Zweck des Daseins", „es läßt sich a priori nicht geradezu die Möglichkeit ableugnen, daß eine magische Wirkung nicht auch sollte von einem bereits Gestorbenen ausgehen können": diese und ähnliche Ausschweifungen und Laster des Philosophen werden immer am ersten angenommen und zur Sache des Glaubens gemacht: — Laster und Ausschweifungen sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und wollen keine lange Vorübung. - Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882)

Genuß Abweichung

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Sterne, Laurence
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