useinandernehmen   Durch ein Loch konnte ich hinuntersehen. Die Kinder standen im Kreis um eine schwarzgekleidete Gestalt. Der Böse Priester. Eingeklemmt unter einem herabgestürzten Balken. Das Gesicht - soweit ich es sehen konnte - teilnahmslos.

»Ist er tot?« fragte einer. Andere zogen am schwarzen Tuch.

»Predige doch, Pater«, riefen sie höhnisch. »Was ist heute dran?«

»Wie komisch«, kicherte ein kleines Mädchen. Sie streckte den Arm aus und nahm ihm den Hut ab. Eine lange Haarlocke löste sich und fiel in den Mörtelstaub. Ein Sonnenstrahl schnitt durch den Raum, leuchtete im aufgewirbelten Staub weiß auf.

»Es ist eine Frau«, sagte das Mädchen.

»Frauen können keine Priester werden«, spottete ein Junge. Er begann, das Haar näher zu untersuchen. Zog kurz danach einen Elfenbeinkamm aus der Tasche und gab ihn dem Mädchen. Es lächelte. Andere Mädchen kamen hinzugelaufen, um die Beute zu begutachten. »Das ist kein echtes Haar«, stellte der Junge fest. «Guckt.« Er nahm dem Priester die lange weiße Perücke ab.

»Das ist Jesus«, rief ein größerer Junge. Auf dem nackten Schädel war ein zweifarbig eintätowiertes Kruzifix. Das war nur die erste von vielen Überraschungen.

Zwei Kinder hatten sich an den Füßen des Opfers zu schaffen gemacht und banden die Schuhe auf. Schuhe waren in jener Zeit auf Malta willkommenes Strandgut.

»Bitte«, sagte da der Priester plötzlich.

»Er lebt noch.«

»Sie lebt noch, du Trottel.«

»Bitte was, Pater?«

»Schwester. Dürfen Schwestern sich als Priester verkleiden, Schwester?«

»Hebt bitte den Balken hoch«, sagte er/sie.

»Guckt, guckt«, hörte man von den Füßen der Frau rufen. Sie hielten einen der schwarzen Schuhe hoch. Er hatte einen hohen Absatz, und es war unmöglich, in ihm zu gehen. Die Paßform entsprach genau der äußeren Form eines hochhackigen Damenschuhs. Ich konnte jetzt auch einen der mattgoldenen Pumps sehen, der aus dem schwarzen Stoff herausragte. Die Mädchen flüsterten aufgeregt, wie schön doch die Schuhe wären. Eine begann, die Schnallen zu lösen.

»Wenn ihr es schafft, hebt doch den Balken hoch«, sagte die Frau (aus ihrer Stimme war erste Panik zu hören), »holt bitte Hilfe.«

»Oh.« Vom anderen Ende. Hoch in die Luft flog einer der Pumps und ein Fuß - ein künstlicher Fuß -, beides war als Einheit am Bein befestigt gewesen.

»Man kann sie auseinandernehmen!«

Die Frau schien nicht darauf zu achten. Wahrscheinlich fühlte sie es nicht mehr. Doch als sie ihr die Füße zeigten, sah ich, wie sich zwei Tränen bildeten und von den äußeren Augenwinkeln hinunterrollten. Sie blieb still, während die Kinder ihr Kleider und Rock wegnahmen, die Manschettenknöpfe in Form von Krallen, dann die hautenge schwarze Hose. Einer der Jungen hatte ein Seitengewehr gestohlen. Auf der Klinge waren Rostflecken. Erst beim zweiten Versuch konnten sie die Hose lösen.

Der nackte Körper war überraschend jung. Die Haut sah gesund aus. Irgendwie hatten wir alle uns den Bösen Priester als einen alten Menschen vorgestellt. An ihrem Nabel war ein sternförmiger Saphir. Der Junge mit dem Seitengewehr stieß gegen den Stein. Er ließ sich nicht lösen. Der Junge stach mit dem Dolch hinein, aber es dauerte mehrere Minuten, bis er den Saphir herausnehmen konnte. Blut sickerte an seine Stelle.

Andere Kinder hatten sich um ihren Kopf gedrängt. Während eines die Kiefer auseinanderzwängte, nahm ihr ein anderes eine Zahnprothese aus dem Mund. Sie wehrte sich nicht: schloß nur ihre Augen und wartete.

Doch nicht einmal die Augen durfte sie geschlossen halten. Denn die Kinder zogen das Lid zurück und fanden ein Glasauge, dessen Iris die Form einer Uhr hatte. Auch das nahmen sie ihr weg.

 Ich überlegte, ob die Demontage des Bösen Priesters weiter- und weitergehen sollte, bis es Abend werden würde. Bestimmt konnte man auch ihre Arme und Brüste abnehmen, sicher mußte man nur die Haut ihrer Beine abschälen, um ein kompliziertes Gewirr silberner Mechanismen zu finden. Wahrscheinlich enthielt auch der Rumpf selbst andere Wunderwerke: Eingeweide aus bunter Seide, lustige Luftballons als Lungen, ein Rokoko-Herz. Doch in diesem Augenblick heulten die Sirenen los. Die Kinder liefen in alle Richtungen auseinander, ohne jedoch zu vergessen, ihre neuerworbenen Schätze mitzunehmen, und die Unterleibsverletzung durch das Seitengewehr begann sich auszuwirken. Ich lag flach unter dem feindlichen Himmel und besah mir noch eine Zeitlang das, was die Kinder zurückgelassen hatten: den leidenden Christus auf dem nackten Schädel, ein Auge und eine Augenhöhle, die mich beide anstarrten; ein schwarzes Loch dort, wo der Mund gewesen war, Stümpfe an den Enden der Beine. Das Blut, das vom Nabel zu beiden Seiten hinunterrann, lag wie ein Gürtel um ihre Taille.  - (v)

 

Ganze, Das

 

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