Aufrütteln  »Der Fetisch des Tages ist die Wissenschaft. War um lassen Sie nicht ein paar von Ihren Freunden auf diese holzköpfige Götzenbild los ? Müssen denn nicht auch diese Einrichtungen zum Teil beiseitegefegt werden, ehe die ZP anbrechen kann?«

Herr Verloc sagte nichts. Er fürchtete, laut zu stöhnen, falls er den Mund aufmachte.

»In diese Richtung müssen Ihre Bemühungen gehen. Ein Anschlag auf ein gekröntes Haupt oder einen Staatspräsidenten isi in gewisser Weise wohl sensationell, aber doch nicht mehr so wie früher. Attentate gehören bereits zu dem Bild, das man sich allgemein von Staatsoberhäuptern macht. Sie sind beinahe schon eine Konvention, besonders seit so viele Präsidenten ermordet worden sind. Nehmen wir nun einen Anschlag gegen — eine Kirche, sagen wir. Auf den ersten Blick selbstverständlich entsetzlich, aber doch nicht so wirkungsvoll, wie der Durchschnittsmensch annimmt. Wie revolutionär und anarchistisch die dahinter stehenden Motive auch gewesen sein mögen, so finden sich doch immer Narren, die imstande sind, solch einer Freveltat religiöse Beweggründe zu unterstellen. Und dann hätten wir nicht mehr die von uns beabsichtigte aufrüttelnde Wirkung. Ein blutiger Anschlag auf ein Theater oder ein Restaurant würde in gleicher Weise darunter leiden, daß man unpolitische Antriebe dahinter sucht: den Wutausbruch eines Hungrigen, die Rache eines Deklassierten. Das alles ist abgenutzt, ist nicht länger mehr geeignet, Anschauungsmaterial über revolutionären Anarchismus abzugeben. Jede Zeitung verfügt über fertige Phrasen, mit denen derartige Manifestationen hinwegerklärt werden können. Ich werde Ihnen jetzt mal die Philosophie des Bombenlegens entwickeln, wie ich sie sehe, vom Standpunkt der Partei her also, der Sie angeblich elf Jahre lang gedient haben. Ich werde mich bemühen, verständlich zu sein. Die Empfindungsfähigkeit der Klassen, die Sie angreifen, stumpft schnell ab. Besitz erscheint ihnen als etwas Unzerstörbares. Man kann nicht darauf bauen, daß diese Leute längere Zeit hindurch Furcht oder Mitleid verspüren. Wenn ein Bombenanschlag heute die öffentliche Meinung beeinflussen soll, so muß es sich dabei um mehr als einen Rache- oder Terrorakt, es muß sich um reine Zerstörung handeln. Um Zerstörung, nichts als Zerstörung, so eindeutig um Zerstörung, daß nicht der geringste Verdacht aufkommen kann, es gehe dabei auch noch um anderes. Ihr Anarchisten dürft niemanden darüber im Zweifel lassen, daß ihr beabsichtigt, das gesamte soziale Gebäude einzureißen. Wie aber kann man diese groteske Idee so in die Köpfe der Mittelklassen hämmern, daß es kein Mißverständnis gibt? Das ist die Frage. Und die Antwort ist: indem man seine Schläge gegen etwas richtet, das außerhalb der bekannten menschlichen Leidenschaften liegt. Gegen die Kunst zum Beispiel. Eine Bombe in der Nationalgalerie würde schon ziemlichen Lärm verursachen. Aber das wäre nicht alarmierend genug. Die Kunst ist nie der Götze des Mittelstandes gewesen. Das wäre so, als würfe man einem Mann ein paar Hinterfenster ein, während man, um ihn aufzuwecken, doch mindestens das Dach abdecken muß. Natürlich würde es einiges Geschrei geben, doch wer würde es anstimmen? Künstler, Kritiker und derartige Leute — also Leute ohne Belang. Niemand achtet auf das, was sie sagen. Aber da ist die Bildung, die Wissenschaft. Jeder Narr, der sein Einkommen hat, glaubt daran. Er weiß zwar nicht warum, aber er glaubt, daß die Wissenschaft irgendwie von Wichtigkeit sei. Sie ist der unantastbare Götze. Die verfluchten Professoren sind insgeheim allesamt Radikale. Sollen sie wissen, daß ihr großer Götze ebenfalls verschwinden muß, um der Zukunft des Proletariats Platz zu machen. Wenn alle diese idiotischen Intellektuellen ein Geheul anstimmen, dann kann das auf der Konferenz von Mailand nicht ohne Wirkung bleiben. Sie werden Leserbriefe an die Zeitungen schreiben. Ihre Entrüstung wird unverdächtig sein, da sie ja nicht offensichtlich in Verteidigung wirtschaftlicher Interessen handeln, und die Klasse, die wir treffen wollen, wird an ihrer empfindlichsten Stelle, ihrem Egoismus, gepackt. Denn diese Leute glauben ja, daß die Wissenschaft auf irgendeine geheimnisvolle Weise die Quelle des materiellen Wohlstandes bilde. Jawohl, das glauben sie. Und die unverständliche Barbarei eines solchen Anschlages wird sie stärker treffen als, sagen wir, die Vernichtung eines ganzen Straßenzuges oder eines von ihren eigenen Leuten besetzten Theaters. Darauf läßt sich immer sagen: >Ach, das ist bloß Klassenhaß.< Was aber soll man von einem Akt halten, der in seiner blanken Zerstörungswut unverständlich, unerklärbar,, beinahe unausdenkbar ist — also schlechtweg irrsinnig? Einzig der Irrsinn ist wirklich furchterregend, da er sich weder durch Drohung, Überredung noch Bestechung heschwichtigen läßt. Überdies bin ich ein gesitteter Mensch. Ich würde Sie niemals auffordern, ein Blutbad anzurichten, selbst wenn ich mir die besten Resultate davon erwartete. Aber von einer Metzelei kann ich mir eben das gewünschte Resultat nicht versprechen. Morde geschehen immerzu, sie sind etwas Alltägliches. Der Anschlag muß sich gegen die Bildung richten, gegen die Wissenschaft. Aber nicht jede Wissenschaft ist dazu geeignet. Das Attentat muß den Anstrich empörender Sinnlosigkeit, willkürlicher Gotteslästerung haben. Da die Bombe nun einmal Ihr Ausdrucksmittel ist, wäre es gewiß sehr wirksam, wenn man eine Ladung auf die Reine Mathematik werfen könnte. Aber das ist unmöglich. Ich habe versucht, Sie zu belehren; ich habe Ihnen Ihre Brauchbarkeit im Sinne der Philosophie dargelegt und Ihnen einige dienliche Argumente an die Hand gegeben. Die praktische Anwendung meiner Lehren ist zum größten Teil Ihre Sache, doch habe ich meine Aufmerksamkeit auch darauf gewandt, nachdem ich beschlossen hatte, Sie herzubestellen. Was halten Sie davon, sich die Astronomie vorzunehmen?«

Seit einiger Zeit machte der unbeweglich neben dem Sessel stehende Herr Verloc bereits den Eindruck, als sei er in ein Koma verfallen, in einen Zustand der Abwesenheit, unterbrochen von gelegentlichen krampfhaften Zuckungen — ähnlich dem, den man an einem Haushund wahrnehmen kann, der vor dem Ofen liegt und schwer träumt. Und es klang auch wie das Knurren eines Hundes, als er dumpf wiederholte: »Astronomie.« Er hatte Herrn Wladimirs schneidigem Vortrag nur mit Mühe folgen können und war von dieser Anstrengung noch etwas benommen. Seine Anpassungsfähigkeit war erschöpft, und Herr Verloc verspürte Zorn. In den Zorn mischte sich Ungläubigkeit. Plötzlich ging ihm auf, daß dies alles ein höchst sorgfältig ausgedachter Scherz sein müsse. Herr Wladimir zeigte lächelnd seine weißen Zähne, und auf seinem vollen, runden Gesicht, das selbstgefällig über den gesträubten Zipfeln der Krawatte ruhte, standen einige Grübchen. Der Liebling der gebildeten Damen der Gesellschaft hatte die Haltung eingenommen, in der er in den Salons seine feinen Geistreicheleien von sich gab. Auf der Kante des Sessels sitzend, die weiße Hand erhoben, schien er zwischen Daumen und Zeigefinger zart das Feinsinnige seiner Ausführungen darzubieten, es ins rechte Licht zu halten. »Etwas Besseres ist gar nicht denkbar. Eine solche Untat verbindet humanste Rücksichtnahme mit der schrecklichsten Entfaltung blinder Zerstörungswut. Kein Journalist wird imstande sein, seinen Lesern weiszumachen, daß auch nur ein einziger Proletarier einen persönlichen Haß gegen die Astronomie hegt. In diesem Zusammenhang kann auch nicht von Hunger die Rede sein, wie? Die Sache hätte auch noch andere Vorteile. Die ganze zivilisierte Welt kennt Greenwich, Jeder weiß etwas darüber, bis hinunter zu den Schuhputzern am Bahnhof Charing Cross. Verstehen Sie jetzt?«

Auf den Zügen des Herrn Wladimir, der seiner launigen Weltläufigkeit wegen in der besten Gesellschaft so wohlgelitten war, zeichnete sich eine zynische Selbstgefälligkeit ab, welche jene gebildeten Frauen in Verwunderung gesetzt haben würde, die so von seinem Witz entzückt waren. »Ja«, fuhr er verächtlich lächelnd fort, »die Sprengung des ersten Meridians müßte einen Chor von Verwünschungen auslösen.«     - Joseph Conrad, Der Geheimagent. Frankfurt am Main 1972  (zuerst 1907)

 

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