Attentäter  Emile Cottin war knapp dreißig, als ich ihn im Foyer Végétalien kennenlernte. Er hatte die Stimme eines Greises. 1919 hatte er mehrere Schüsse auf Clemenceau abgegeben, war zum Tode verurteilt und dann von Clemenceau selbst begnadigt worden. Dieser lebte bis zu seinem Tode mit einer Kugel in Herznähe, die man nicht herausoperieren konnte. Im Zuchthaus von Melun sah Cottin niemanden, nicht einmal denjenigen, der ihm sein Essen reichte. Er sprach nie und schnappte langsam über. Die Liga für Menschenrechte intervenierte. Man machte geltend, daß Clemenceau nur verwundet worden sei. Als ich Ende 1925 nach Paris kam, war der „Tigerjäger" (Clemenceau wurde „der Tiger" genannt) dank einer Amnestie seit einem Jahr auf freiem Fuß. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Hätte er die Geschichte der russischen Nihilisten gelesen, hätte er gewußt, daß man in der Zelle reden und singen muß. Er hatte ein Aufenthaltsverbot für Paris und sicher auch für andere Städte, aber sein alter Chef - er war Schreiner gewesen - hatte ihn wieder angestellt. Ich glaube, daß die Polizei mehr oder weniger auf dem Laufenden war, ihn aber in Ruhe ließ.

Cottin kam sonntags immer ins Foyer Végétalien, um seine Genossen zu besuchen. Wir gingen dann an die frische Luft in den Bois de Boulogne oder den Bois de Vincennes. Unter uns war ein gewisser Daudel, von dem ich in Die Brücke im Nebel erzähle. Gegen 1930 traf ich jemanden vom Foyer und fragte ihn nach den Genossen, die ich aus den Augen verloren hatte. Er erzählte mir, daß Daudel im Namen der freien Liebe seine Gefährtin getötet hatte, weil sie ihn, ebenfalls im Namen der freien Liebe, betrogen hatte. Diese Messerstiche brachten ihm zehn oder fünfzehn Jahre Strafkolonie ein. In meinem Roman lasse ich ihn zurückkehren.

Cottin mochte es nicht, wenn man sagte, daß er in Paris sei. Nach einem unserer Sonntagsausflüge waren wir eine ganze Bande in der Métro. Einer von uns schrie: „Es lebe Cottin!"

Und die ganze Bande antwortete: „Aber nein, Cottin ist nicht hier!"

Es war lustig. Man hätte meinen können, es sei ein Sketch.

Danach verlor ich ihn aus den Augen. Cottin hatte wirklich kein Glück. Ich glaube, er kam nur einmal ins Vache enragée. Lange genug, um von Maurice Halle verdächtigt zu werden, der Autor eines Artikels zu sein, den ich geschrieben hatte. Ja, er war wirklich ein Pechvogel! Er ging nach Spanien und ließ sich als Opfer seiner Illusionen wie ein Idiot in der Falle des Bürgerkriegs töten.   -  Léo Malet, Stoff für viele Leben. Autobiographie. Hamburg 1990 (Edition Nautilus)

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