Arbeitsverbot   Künstlerisches Arbeiten und Arbeit überhaupt wird gleichermaßen verpönt, verachtet; Grundsatz ist, daß man das Leben so zu leben habe, wie es einem geschenkt  wurde, nicht aber es vergeuden dürfe, indem man sich wegen des bißchen Lebensunterhalts zu Tode rackert. Und leben heißt hinschauen, zuhören, aufgehen in der Atmosphäre dieser geistsprühenden Örtlichkeiten des Nachkriegs-Paris: der Passage de l'Opéra, des Boulevard Bonne-Nouvelle, der Porte Saint-Denis, des Parks auf den Buttes-Chaumont. Die Surrealisten setzen sich ins überfüllte Kino Parisiana und schauen sich "In den Armen des Riesenpolypen" an, ergötzen sich auf ihre subtile Weise an den idiotischen Stücken im Theâtre Moderne und im Theater an der Porte Saint-Martin. Gerade die allerabgeschmacktesten Aufführungen schätzen sie am meisten, weil darin ganz naiv und unverstellt Gefühle und Gemütsbewegungen des niederen Volkes dargestellt würden, die noch nicht durch Bildung und Zivilisation verbogen seien. Sie machen die Runde durch die Bordelle, auf der Suche nach dem noch unverfälschten Naturell der Huren. Den Stumpfsinn, die Verblödung um ihrer selbst willen suchen sie. Ein ganz einfaches Mittel, dahin zu gelangen, ist: Man braucht nur eine Sonntagskarte zu nehmen, in einen Vorortzug zu steigen, Stunden um Stunden endlos auf allen Strecken durch die trostlosen Stadtrandlandschaften zu fahren, und glaubt schon, das höre überhaupt nicht mehr auf. Eines Tages, ohne die geringste Ankündigung, verschwindet ÉLUARD. Das stürzt die Naiveren aus der Gruppe in Verzückung: sie schwärmen, wie RIMBAUD einst alles verließ und sich nach Äthiopien durchschlug, so eifere nun ELUARD jenem nach, werde ein zweiter RIMBAUD. Aus dieser neuen Perspektive lesen sie erneut seine Gedichte. Die Zeitungen melden, ÉLUARD sei auf den Neuen Hebriden im Stillen Ozean an Land gegangen. Doch mit einem Male taucht er wieder in Paris auf: Er hatte lediglich die übliche Verdummungsfahrt bis in die abgelegensten Winkel der Erde ausgedehnt.

Weil die Passage de l'Opéra einem Durchbruch zur Verlängerung des Boulevard Haussmann weichen mußte, ihr Stammcafé abgerissen wurde, hielten sie ihre täglichen Zusammenkünfte nun im ‹Cyrano› ab, einem Café an der Place Blanche und unweit der Rue Fontaine, wo BRETON wohnt, mitten im Montmartre also mit seinen zwielichtigen Boulevards, auf denen es von Dirnen aller Schattierungen, deren Zuhältern und all denen wimmelt, die sich einreden, sie könnten sich da amüsieren. Die Surrealisten kommen voll auf ihre Rechnung, denn sie lernen die exzentrischsten Leute hier kennen: Artisten, die im Zirkus Médrano an der Place Pigalle auftreten, und Trapezkünstlerinnen mit exotischen Augen, Amerikaner, den Mund voller Goldzähne, man geht ihnen wie der Pest aus dem Weg, lauter Leute aus den untersten Rängen der Gesellschaft, Bodensatz, aber voller Geheimnisse. Ihren Aktionsradius dehnen die Surrealisten bis in den Faubourg Montmartre aus, auf dessen Trottoirs ziellos die Nadjas schlendern und ihren eigenen Geheimnissen nachsinnen. Sonntags aber schwärmen sie aus bis zum Flohmarkt von Clignancourt und Saint-Ouen und begeistern sich immer wieder neu für die grotesken und wunderbaren Buden, Warenstände, für die seltsamen Gegenstände, die es wie Strandgut aus fremden Welten hierher gespült hat, und für die ganze Atmosphäre des Ortes.

Unter der verhärteten Kruste jahrhundertealter Kultur müsse das reine, nackte, unverbildete, brutale, zerrissene Leben neu entdeckt werden, und das Unbewußte einer Stadt sei mit dem Unbewußten der Menschen in Einklang zu bringen, sagen sie zur Erklärung ihres Treibens.

Andere Leute wenden dagegen ein, die Vergnügungen der Surrealisten seien die typischen «Zerstreuungen gebildeter, überkultivierter, blasierter Leute>. <Zerstreuungen> sind es wohl, doch eher im PASCALschen Sinn eines Sichablenkens, Sichlosreißens von einer unerfreulichen Gesellschaftsordnung, eines Sich-ihr-Entziehens.  - Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg 1986 (rde 437)

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