- Bruce Chatwin, Der Traum des Ruhelosen. Frankfurt
am Main 1998 (Fischer-Tb. 13729, zuerst 1996)
Anstand (2) Als Caesar abwinkte und ihm bedeutete,
er solle sein Gesuch zu anderer Zeit vorbringen, packte ihn Cimber auf beiden
Schultern an der Toga, und während Caesar schreit »Das ist doch Gewalt!«, verletzt
ihn der eine der beiden Casca von hinten, nur wenig unterhalb der Kehle. Caesar
bekommt Cascas Arm zu fassen und durchbohrt ihn mit dem Schreibgnffel. Er versucht,
aufzuspringen, wird aber durch einen zweiten Stich daran gehindert. Sobald er
bemerkt, daß von allen Seiten blanke Dolche auf ihn
zielen, verhüllt er das Haupt mit der Toga, zugleich zieht er mit der Linken
das weite Gewand über die Unterschenkel. Er will auch im Fallen
möglichst den Anstand wahren, indem er die unteren Körperteile bedeckt. So wird
er von 23 Stichen durchbohrt und läßt nur beim ersten Stoß einen Schmerzenslaut,
aber kein Wort vernehmen.
- (
gsv
)
Anstand (3) Der Kerl sah mir direkt in die Augen. Er lächelte, was wohl freundlich
aussehen sollte, ihm aber nur unvollkommen gelang und sich sowieso auf die rasiermesserdünnen
Lippen beschränkte. Die dunklen Augen starrten mich an wie im Fieber. Gleichzeitig
machte der Mann eine Bewegung mit der linken Hand, während er die rechte in
seiner Jackentasche vergraben hatte. Er sah mich immer noch lächelnd an; seine
linke Hand sagte mir: Geh zur Seite! Die Rothaarige war verschwunden. Dante
Paolizi - den Namen erfuhr ich später - war zu rücksichtsvoll, zu höflich für
einen gemeinen Gangster. Er wurde das Opfer seiner Anständigkeit, seiner guten
Erziehung. Als ich endlich kapierte, was er wollte - an manchen Tagen zieht
man die Rolläden erst spät hoch -, drückte ich mich blitzschnell gegen die Wand,
um nichts mitzunehmen, was mir nicht zustand. Für den Mann da draußen war es
zu spät. Durch meine Schuld hatte er ein paar Sekunden zu lange gezögert, und
das hatte genügt, um den oder die zu warnen, die er überraschen wollte. Eine
ohrenbetäubende Knallerei erfüllte das Bistro. Dante Paolizi empfing seinen
Anteil mit der Würde eines amtierenden Monarchen. Er brach zusammen und landete
im Rinnstein, während seine Rechte in der Tasche noch immer die Pistole umklammerte.
Das Zucken der Leiche löste den gefährlichen Mechanismus aus, und die kleinen
Eisenstücke fegten im Tiefflug über das Pflaster. - Léo Malet, Stoff
für viele Leichen. Reinbek bei Hamburg 1989 (zuerst 1982)
Anstand (4) Das bißchen Anstand
und Öffentliche Sitte, das noch unsere Welt erleuchtet, rührt daher, daß ein
Spitzbube nicht als solcher gelten möchte und seinesgleichen Spitzbuben
nennt. Alles wäre verloren, wenn er öffentlich zu sagen wagte: Ich bin ein Spitzbube.
In dieser Scham kommt Tieferes zum Ausdruck als
Heuchelei. - Rivarol, nach (
riv
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