nruf

Nackte Feau am Telefon, Rpckenansicht

- George Petty

Anruf (2) Es war Nacht. Quinn lag im Bett, rauchte eine Zigarette und horchte auf den Regen, der gegen das Fenster schlug. Er fragte sich, wann er aufhören und ob ihm am Morgen nach einem langen oder nach einem kurzen Gang zumute sein werde. Ein aufgeschlagenes Exemplar von Marco Polos Reisen lag mit dem Rücken nach oben neben ihm auf dem Kopfkissen. Seitdem er vor zwei Wochen den letzten Roman William Wilsons beendet hatte, war er faul gewesen. Sein Erzähler, der Privatdetektiv Max Work, hatte eine komplizierte Reihe von Verbrechen aufgeklärt, er war einige Male zusammengeschlagen worden und nur mit knapper Not davongekommen, und Quinn fühlte sich von seinen Anstrengungen ein wenig erschöpft. Im Laufe der Jahre war ihm Work sehr nahegekommen. Während William Wilson für ihn eine abstrakte Figur blieb, war Work mehr und mehr lebendig geworden. In der Dreiheit von Personen, die Quinn geworden war, diente Wilson als eine Art Bauchredner, Quinn selbst war die Puppe, und Work war die belebte Stimme, die dem Unternehmen Sinn und Zweck verlieh. Wenn Wilson eine Illusion war, so rechtfertigte er doch das Leben der beiden anderen. Wenn Wilson nicht existierte, so war er doch die Brücke, die es Quinn erlaubte, aus sich selbst in Work hinüberzugehen. Und allmählich war Work eine Persönlichkeit in Quinns Leben geworden, sein innerer Bruder, sein Gefährte in der Einsamkeit.

Quinn nahm den Marco Polo auf und begann noch einmal, die erste Seite zu lesen. «Wir werden Gesehenes, wie es gesehen, Gehörtes, wie es gehört wurde, niederschreiben, so daß unser Buch ein genauer Bericht sei, frei von jeglicher Art von Erdichtung. Und alle, welche dieses Buch lesen oder anhören, mögen dies mit vollem Vertrauen tun, denn es enthält nichts als die Wahrheit.» Als Quinn eben begann, über den Sinn dieser Sätze nachzudenken und sich ihre selbstbewußten Behauptungen durch den Kopf gehen zu lassen, läutete das Telefon. Viel später, als er in der Lage war, die Ereignisse dieser Nacht zu rekonstruieren, erinnerte er sich, daß er auf die Uhr sah, feststellte, daß es nach Mitternacht war, und sich fragte, wer ihn um diese Zeit anrufen mochte. Sehr wahrscheinlich schlechte Nachrichten, dachte er. Er stieg aus dem Bett, ging nackt zum Telefon und nahm den Hörer nach dem zweiten Läuten ab.

«Ja?»

Eine lange Pause am anderen Ende, und einen Augenblick dachte Quinn, der Anrufer habe aufgelegt. Dann kam wie aus großer Entfernung der Klang einer Stimme, wie er dergleichen noch nie gehört hatte. Sie war mechanisch, aber voll Gefühl, kaum mehr als ein Flüstern und dennoch deutlich vernehmbar und so gleichmäßig im Tonfall, daß er nicht sagen konnte, ob sie die eines Mannes oder die einer Frau war.

«Hallo?» sagte die Stimme.
«Wer spricht dort?» fragte Quinn.
«Hallo?» sagte die Stimme wieder.
«Ich höre», sagte Quinn. «Wer spricht dort?»
«Ist das Paul Auster?» fragte die Stimme. «Ich möchte Mr. Paul Auster sprechen.»
«Hier gibt es niemanden, der so heißt.»
«Paul Auster. Vom Detektivbüro Auster.»
«Tut mir leid», sagte Quinn. «Sie müssen die falsche Nummer gewählt haben.»
«Die Angelegenheit ist äußerst dringend», sagte die Stimme.
«Ich kann nichts für Sie tun», sagte Quinn. «Hier gibt es keinen Paul Auster.»
«Sie verstehen nicht», sagte die Stimme. «Die Zeit wird knapp.»
«Dann schlage ich vor, Sie wählen noch einmal. Dies ist kein Detektivbüro.»

Quinn legte den Hörer auf. Er stand auf dem kalten Boden und blickte auf seine Füße, seine Knie, seinen schlaffen Penis hinunter. Einen kurzen Augenblick bedauerte er, daß er dem Anrufer gegenüber so kurz angebunden gewesen war. Es hätte, dachte er, interessant sein können, ein wenig auf ihn einzugehen, Vielleicht hätte er etwas über den Fall herausbekommen — vielleicht sogar irgendwie helfen können. «Ich muß mehr auf der Hut sein», sagte er sich. - Paul Auster, Die New York-Trilogie (Stadt aus Glas), Reinbek bei Hamburg 1991 (zuerst 1985)

Anruf (3) Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telefonieren nie gehört hatte. Es war, wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen - aber auch dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen -, wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe, aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug, so, wie wenn sie fordere, tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör. K. horchte, ohne zu telefonieren, den linken Arm hatte er auf das Telefonpult gestützt und horchte so.

Er wußte nicht wie lange; so lange, bis ihn der Wirt am Rock zupfte, ein Bote sei für ihn gekommen. »Weg!« schrie K. unbeherrscht, vielleicht in das Telefon hinein, denn nun meldete sich jemand. Es entwickelte sich folgendes Gespräch: »Hier Oswald, wer dort?« rief es, eine strenge, hochmütige Stimme mit einem kleinen Sprachfehler, wie es K. schien, den sie über sich selbst hinaus durch eine weitere Zugabe von Strenge auszugleichen versuchte. K. zögerte, sich zu nennen, dem Telefon gegenüber war er wehrlos, der andere konnte ihn niederdonnern, die Hörmuschel weglegen, und K. hatte sich einen vielleicht nicht unwichtigen Weg versperrt. K.s Zögern machte den Mann ungeduldig. »Wer dort?« wiederholte er und fügte hinzu: »Es wäre mir sehr lieb, wenn dortseits nicht soviel telefoniert würde, erst vor einem Augenblick ist telefoniert worden.« - Franz Kafka, Das Schloß

Anruf (4) Einen Apparat besitzen und nicht wissen, wen man anrufen kann, das ist betrüblich. Und dennoch, das ist kein ausreichender Grund, daß ich es nicht benutze.

Und mit diesem Gedanken nahm er den Hörer zur Hand und verlangte eine beliebige Nummer, die erste, die ihm in den Sinn kam.

Er brauchte nicht lange zu warten. Eine weibliche Stimme meldete sich.

«Sind Sie es?» fragte Tito. «Wie? Gnädige Frau... wie gut, gerade Sie wollte ich sprechen. Seien Sie auf der Hut, Ihr Mann weiß alles. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Dringen Sie nicht weiter in mich. Es sollte Ihnen genügen zu wissen: Ihr Gatte weiß alles. Nein, nein, nein, fragen Sie mich nichts weiter. Ich kann Ihnen nichts mehr sagen. Nein, ich bin nicht Giacomino... Nun gut, ja. Da Sie es erraten haben... ich bin Giacomino. Gute Nacht.»

Und er hängte den Hörer wieder an den Haken.

«Gott weiß, wer Giacomino sein mag», dachte er lächelnd, «und wer weiß, wer diese Frau sein mag.»

Aber plötzlich verfinsterte sich Titos Miene.

«Die Ärmste, ich habe ihr einen schlechten Streich gespielt», bereute er ernsthaft. «Durch meine Schuld wird sie eine häßliche Nacht verbringen... Vielleicht wird sie meinetwegen Unannehmlichkeiten zu erdulden haben. Jetzt rufe ich sie noch einmal ans Telefon und teile ihr mit, daß... Aber nun weiß ich die Nummer nicht mehr. Um so schlimmer, oder um so besser. Vielleicht habe ich ihr doch einen guten Dienst geleistet.»   - Pitigrilli, Kokain. Reinbek bei Hamburg 1988 (rororo 12225, zuerst 1922)

Anruf (5) Technisch gesehen, hinkt die Kunst, Telephongespräche in eine Erzählung einzubauen, weit hinter der Kunst hinterher, Zwiegespräche von Zimmer zu Zimmer oder auch von Fenster zu Fenster wiederzugeben, hinweg über eine enge blaue Gasse in einer uralten Stadt, wo Wasser kostbar ist, einer Stadt mit elenden Eseln und verkäuflichen Teppichen und Minaretten und Ausländern und Melonen und den widerhallenden Echos des Morgens. Als Joan in ihrer munteren, langbeinigen Art das fordernde Gerät erreichte, ehe es aufgab, und (mit hochgezogenen Augenbrauen und umherschweifendem Blick) «hallooh» hineinsprach, begrüßte hohle Stille sie; sie konnte nicht mehr ausmachen als das formlose Geräusch stetigen Atmens; dann sagte die Stimme des Atmers mit anheimelndem fremdem Akzent: «Moment bitte, Entschuldigung...» - dies durchaus locker, und dann atmete er weiter und machte vielleicht «hm» und «ahem» oder seufzte sogar ein wenig, begleitet von einem Knistern, das sich anhörte, als würden kleine Seiten umgeblättert.

«Hallo-o!» wiederholte sie.

«Sie sind», riet die Stimme mißtrauisch, «Mrs. Fire?»

«Nein», sagte Joan und legte auf.  - Vladimir Nabokov, Pnin. Reinbek bei Hamburg 2004 (zuerst 1957)

Anruf (6) Das Telefon. Mrs. Rosoff.

«Sagen Sie, Rabbi», schnaufte sie aufgeregt, «wieviel wiegt die Thora? Die Rolle, wissen Sie.»

«Die Tho... Also das weiß ich wirklich nicht, Mrs. Rosoff. Die Rollen sind nicht alle gleich groß und daher verschieden schwer... Ist es so wichtig? Ich würde sagen, im Schnitt so bei fünfundzwanzig, dreißig Pfund.»

«Und ob das wichtig ist! Mein Mann hat letzte Woche eine Mitteilung bekommen, daß er an Jom Kippur zu einem Ehrendienst aufgerufen werden soll - als Hagboh. Ich hab erst jetzt erfahren, was das bedeutet: Er muß die Thorarolle an den beiden Griffen hochhalten. Hoch überm Kopf... Ich bitte Sie, Rabbi - ehrt man. so einen Mann, der vor drei Jahren einen Herzinfarkt gehabt hat? Sind das die Ehren, die man austeilt, Rabbi? Wollen Sie, daß er vor dem Thoraschrank zusammenbricht?»

Der Rabbi versuchte ihr zu erklären, daß dafür die Ritualkommission zuständig sei und daß man dort über Mr. Rosoffs Gesundheitszustand sicherlich nicht Bescheid gewußt habe.

«Es ist nicht weiter schlimm, Mrs. Rosoff, weil Hagboh der eine von einem Paar ist. Die beiden heißen Hagboh und Glilloh. Hagboh hebt die Thorarolle hoch, und Glilloh rollt sie auf und bindet sie zu... Ihr Mann braucht nur zu sagen, daß er lieber die Thora aufrollen möchte, dann wird sie der andere hochheben.»

«Rabbi, Sie kennen meinen Mann nicht. Glauben Sie, daß er auf die Ehre verzichtet, wenn er schon dazu aufgefordert wird? Lieber riskiere er einen Herzanfall.»

Der Rabbi versprach, sich selbst um die Sache zu kümmern. - Harry Kemelman, Am Samstag aß der Rabbi nichts. Reinbek bei Hamburg 1967 (rororo thriller 2125, zuerst 1966)

Anruf (7)

Bei Anruf...

... Mord

- Alfred Hitchcock, "Bei Anruf Mord", nach: François Truffaut, Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973 (zuerst 1966)

Anruf (8)  Von Zeit zu Zeit  — sagen wir in einem Rhythmus von zwei- bis dreimal im Monat — empfängt dieser Herr Anrufe, die ihm möglicherweise gar nicht gelten, die ihn aber zuweilen verwirrt, zuweilen verzagt, zuweilen erregt, immer aber traurig gestimmt zurücklassen. Verschiedene Stimmen brechen in sein reichlich isoliertes Leben ein und sprechen ihm zerstreut von Lebensbildern, zu denen er keine Beziehung hat. Nicht selten werden ihm Verbrechen angetragen, Beteiligungen an schmutzigen Taten, betrügerischen Geschäften,, man bietet ihm Drogen an, »zuverlässig syphilitische« Frauen und noch warme Leichen von schönen Damen. Er hört entsetzt, feige und erregt zu. - (pill)

Anruf (9)  Er saß zufällig gerade auf der Toilette und entleerte seinen Darm, als das Telefon läutete. Es war etwas später als in der vorausgegangenen Nacht, vielleicht zehn oder zwölf Minuten vor eins. Quinn war eben bei dem Kapitel angekommen, das Marco Polos Reise von Peking nach Amoy schildert, und das Buch lag aufgeschlagen auf seinen Knien, während er in dem kleinen Badezimmer sein Geschäft verrichtete. Das Läuten des Telefons war entschieden ein Ärgernis. Wollte er sofort den Hörer abheben, so mußte er aufstehen, ohne sich abzuwischen, und es war ihm zuwider, in diesem Zustand durch die Wohnung zu gehen. Wenn er andererseits in seinem normalen Tempo beendete, was er tat, kam er nicht mehr rechtzeitig an den Apparat. Trotzdem zögerte Quinn, sich zu bewegen. Das Telefon bedeutete ihm nicht viel, und schon mehr als einmal hatte er daran gedacht, sich von ihm zu befreien. Was ihm am meisten mißfiel, war seine Tyrannei. Es hatte nicht nur die Macht, ihn gegen seinen Willen zu unterbrechen, sondern er gab seinem Befehl auch immer unweigerlich nach. Dieses Mal beschloß er, Widerstand zu leisten. Beim dritten Läuten waren seine Eingeweide leer. Beim vierten Läuten war es ihm gelungen, sich abzuputzen. Beim fünf-ten Läuten hatte er seine Hose hochgezogen und das Badezimmer verlassen und ging ruhig durch die Wohnung. Er hob den Hörer nach dem sechsten Läuten ab, aber am anderen Ende war niemand mehr. Der Anrufer hatte aufgelegt. - Paul Auster, Die New York-Trilogie (Stadt aus Glas), Reinbek bei Hamburg 1991 (zuerst 1985)

Anruf (10)


Telefon

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