Dnker   Am Himmel tauchte eine Montgolfiere auf. Einige englische Luftschiffer machten mit ihr Flugversuche über der Küste. Es war ein schöner, mit Fransen, Ornamenten und Schleiern geschmückter Luftballon, an dem eine aus Weiden geflochtene Gondel hing; zwei Offiziere mit goldenen Tressen und Zweispitz saßen darin und betrachteten die Landschaft unter ihnen mit dem Fernrohr. Sie richteten es auf den Marktplatz, beobachteten den Mann auf dem Baume, das ausgespannte Tuch, die Menschenmenge: sonderbare Aspekte der Welt. Auch Cosimo hatte den Kopf gehoben und blickte aufmerksam auf den Ballon.

In diesem Augenblick wurde die Montgolfiere von einer Bö erfaßt, der Wind riß sie fort, während sie wie ein Kreisel herumgewirbelt wurde, und trieb sie dem Meer zu. Die Luftschiffer bewahrten ruhiges Blut und bemühten sich offenbar, den Druck des Ballons zu vermindern; gleichzeitig ließen sie den Anker herunter, in dem Bestreben, irgendeinen Halt zu finden. Der silbrige Anker, der an einem langen Seil hing, flog über den Himmel und folgte schräg dem Kurs des Ballons; jetzt überquerte er den Marktplatz und befand sich etwa in Höhe des Nußbaumwipfels, so daß wir befürchteten, Cosimo könnte von ihm getroffen werden. Freilich konnten wir nicht ahnen, was unsere Augen eine Sekunde später sehen sollten.

Der sterbende Cosimo machte in dem Augenblick, als das Ankerseil nah an ihm vorüberkam, einen jener Sprünge, die ihm in seiner Jugend keine Schwierigkeiten bereitet hatten, und klammerte sich an den Strick, während er mit den Füßen auf dem Anker stand und sein Leib sich zusammenkauerte; so sahen wir ihn fliegen, vom Winde fortgerissen und kaum den Flug des Ballons behindernd, bis er in Richtung des Meeres verschwand...

Nachdem die Montgolfiere die Bucht überquert hatte, glückte ihr die Landung am anderen Ufer. Am Seil hing nur noch der Anker. Die Ballonfahrer, die allzusehr damit beschäftigt gewesen waren, Kurs zu halten, hatten nichts bemerkt. Man nimmt an, daß der Sterbende abgestürzt ist, während sich der Ballon mitten über der Bucht befand.

So verschwand Cosimo und bereitete uns nicht einmal die Genugtuung, als Toter auf den Erdboden zurückzukehren.

In der Familiengruft bewahrt ein Grabstein mit folgender Inschrift sein Andenken: »Cosimo Piovasco di Rondo - Er lebte auf den Bäumen - Er liebte stets die Erde- Er entschwand gen Himmel«.  - Italo Calvino, Der Baron auf den Bäumen. München 1984 (zuerst 1957)

Anker (2)  Das Objekt, das sie am liebsten zeichnen würde, sagte Fräulein Zwida, sei so ein kleiner vierzackiger Anker, »Draggen« genannt, wie ihn die Fischer für ihre Boote benutzen. Sie zeigte mir einen, als wir bei den Fischerbooten an der Mole vorbeikamen, und erklärte mir die Schwierigkeiten einer exakten Zeichnung der vier Haken in den verschiedenen Neigungen und Perspektiven. Ich begriff, daß der Gegenstand eine Botschaft für mich enthielt, die ich entziffern mußte. Ein Anker? Das konnte nur heißen: eine Aufforderung, mich niederzulassen, mich festzuhaken, Wurzeln in die Tiefe zu schlagen, um Schluß zu machen mit meiner Unstetigkeit und meinem Verweilen an der Ober-flache. Doch diese Deutung ließ Raum für Zweifel. Konnte es nicht auch heißen: eine Aufforderung, mich loszureißen, in See zu stechen, das Weite zu suchen? Etwas an der Form des Draggens, die vier einwärts gebogenen Zähne, die vier schartigen, vom Schleifen über den felsigen Grund zerschrammten Eisenarme ermahnten mich, daß keine Entscheidung ohne Risse und Schmerzen abgehen würde. Zu meinem Trost blieb der Umstand, daß da nicht etwa ein schwerer Hochseeanker vor mir lag, sondern nur eben ein leichter Draggen: Niemand verlangte mithin, daß ich auf die Beweglichkeit meiner Jugend verzichte, ich sollte nur einen Augenblick innehalten, mich besinnen, das Dunkel in meinem Innern ausloten.   - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)
 

Schiff Schiff



Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe


Verwandte Begriffe
Festhalten

Synonyme