Analyse, statistische   - Wenn Sie es wünschen - sagte Sciss sdiarf - kann ich Ihnen später die Einzelheiten meiner Berechnungen vorlegen. Jetzt teile ich nur das Resultat mit.

Jeder dieser Vorfälle - die sogenannten Leichenberührungen - spielte sich dergestalt ab, daß, je später er stattfand, er sich desto weiter vom Zentrum, das heißt, dem ersten Ort, entfernt befand. Darüber hinaus tritt eine zweite Regelmäßigkeit auf: Die Zeiten zwischen den einzelnen Vorkommnissen werden, vom ersten ausgehend, immer länger, wenn auch, das sei zugegeben, nicht so, daß sie in einer bestimmten Proportion stünden. Berücksichtigt man jedoch einen zusätzlichen Faktor - die Temperatur -, so zeigt sich, daß eine gewisse neue Regelmäßigkeit zum Vorschein kommt. Das Produkt nämlich aus der Zeit, die zwischen zwei Vorfällen verstreicht, und der Entfernung, die zwei aufeinanderfolgende Orte, an denen Leichen verschwunden sind, vom Zentrum trennt, wird zu einer festen Große - wenn man es mit der Differenz der in beiden Fällen herrschenden Temperaturen multipliziert...
- Auf diese Weise - fuhr Sciss nach einer Weile fort -erhalten wir eine feste Größe von fünf bis zehn Zentimetern pro Sekunde und Temperaturgrad. Ich sage fünf bis zehn, weil der exakte Zeitpunkt des Verschwindens in keinem der Fälle festgestellt wurde. Wir haben es immer mit einer breiten, mehrstündigen Zeitspanne im Verlauf der Nacht zu tun, oder genauer: in der zweiten Nachthälfte. Wenn wir als Wert der Konstante einen Durchschnitt von sieben Zentimetern ansetzen, dann ergibt sich nach Abschluß der Berechnungen, die ich durchgeführt habe, eine interessante Sache. Die Ursache der Erscheinung, die sich gleichmäßig vom Zentrum zur Peripherie des Gebiets bewegt, liegt nicht in Treakhill, sondern ist in westliche Richtung verschoben, hin zu den Ortschaften Timbridge-Wells, Engender und Dipper ..., das heißt dort, wo die Gerüchte über das »Berühren« der Leichen kursierten. Wenn wir uns  auf ein Experiment einlassen, ein Experiment, das darir besteht, daß man ganz genau den Punkt lokalisiert, welcher das geometrische Zentrum der Erscheinungen darstellt, dann befindet man sich nicht in einer Leichenhalle, sondern achtzehn Meilen südwestlich von Shaltam - in den Sümpfen und im Ödland von Chinchess...

Inspektor Farquart, der diesen Ausführungen mit immer roter anlaufendem Nacken gelauscht hatte, hielt es nicht länger aus.
- Wollen Sie damit sagen - platzte er heraus - daß aus diesen verfluchten Sümpfen ein Gespenst aufgestiegen ist, das, durch die Luft schwebend und unsichtbar, eine Leiche nach der ändern fortgeschleppt hat?!

Sciss rollte sein Papier langsam zusammen. Im Licht des Scheinwerfers, mager und schwarz sich von der grün leuchtenden Karte abhebend, war er mehr als zuvor einem Vogel ähnlich (einem Sumpfvogel - fügte Gregory im Geist hinzu). Er schob das Blatt sorgfältig in seine tiefe, scheinbar bodenlose Tasche, richtete sich auf und starrte mit rotgeflecktem Gesicht den Inspektor an.

- Ich will nichts sagen, was über die statistische Analyse hinausgeht - erklärte er. - Es gibt zum Beispiel enge Zusammenhänge zwischen  Eiern,  Räucherfleisch  und  dem Magen sowie entfernte, weniger ins Auge fallende zwischen der politischen Verfassung eines Landes und dem durchschnittlichen Heiratsalter. Immer jedoch handelt es sich um eine Korrelation, welche die Grundlage für Aussagen über Folgen und Ursachen bietet.
Mit einem großen, sorgfältig zusammengelegten Taschentuch rieb er sich feine Schweißtropfen von der Oberlippe, steckte das Tuch in die Tasche und fuhr fort:
-  Diese Serie von Vorfällen ist schwer zu erklären. Es kommt darauf an, sich jeglicher Voreingenommenheit zu enthalten. Sollte ich diese bei Ihnen vorfinden, so wäre ich gezwungen, die Angelegenheit aufzugeben, ebenso wie die Zusammenarbeit mit dem Yard.

Er wartete einen Augenblick ab, als hoffte er, daß jemand den Fehdehandschuh aufnehmen würde, dann ging er an die Wand und schaltete den Scheinwerfer aus. Es wurde fast ganz dunkel. Sciss tastete mit der Hand an der Wand entlang, um den Schalter zu finden.
Das Licht der Deckenlampe veränderte das Zimmer. Es schien kleiner geworden zu sein, und der geblendete, blinzelnde Chefinspektor erinnerte Gregory an seinen alten Onkel. Sciss kehrte zur Karte zurück.

— Als ich meine Forschungen aufnahm, war seit den ersten beiden Fällen bereits so viel Zeit verflossen, oder, um nichts zu beschönigen, die Polizei hatte ihnen in ihren »Dossiers« so wenig Aufmerksamkeit geschenkt, daß eine genaue Rekonstruktion der Fakten, die es erlaubt hätte, festzustellen, was im einzelnen passiert war, Stunde um Stunde, eine Unmöglichkeit war. Ich habe mich deshalb auf die übrigen drei Vorfälle beschränkt. In allen dreien herrschte dichter Nebel - zweimal dichter und einmal ungewöhnlich dichter. Außerdem fuhren im Radius mehrerer hundert Meter diverse Autos vorüber - es waren, zugegeben, keine »verdächtigen«, aber ich weiß nicht recht, worauf sich ein solcher Verdacht hätte stützen sollen. Wohl niemand hätte sich zu einem derartigen Unternehmen m einem Auto aufgemacht mit der Aufschrift »Transport gestohlener Leichen». Das Auto hatte eventuell in beträchtlicher Entfernung vom Ort des Diebstahls geparkt werden können. Endlich habe ich noch erfahren, daß in allen drei Fällen wahrend der Dunkelheit (ich erinnere daran, daß das Verschwinden immer nachts vor sich ging) in der Nähe... - Sciss machte eine kleine Pause und schloß ruhig aber nachdrücklich: - ein Haustier gesehen wurde, das man dort normalerweise nicht antrifft oder das zumindest  meine Gespräch spartner nicht kannten und dort niemals gesehen hatten. Zweimal war es eine Katze und einmal ein Hund.

Ein kurzes Lachen ertönte, das sogleich in eine miserable Nachahmung von Husten überging. Sörensen lachte. Farquart hatte sich weder bewegt noch geräuspert, selbst als Sciss seine zweifelhaften Witze über die »verdächtigen» Wagen gemacht hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde fing Gregory den Blick auf, den der Chefinspektor auf Sörensen richtete. Er enthielt keinen Tadel, nicht einmal Strenge, lediglich eine fast körperlich spürbare Schwere.

Der Doktor hustete noch einmal, um den Anschein zu wahren, und es wurde wieder still. Sciss blickte über ihre Köpfe hinweg auf das dunkel werdende Fenster.

- Die statistische Bedeutung der letzten Beobachtung ist scheinbar gering - fuhr er fort, wobei er immer häufiger ins Falsett verfiel. - Ich habe jedoch festgestellt, daß in diesen Gegenden praktisch nie herrenlose Hunde oder Katzen herumstromern. Außerdem wurde eines dieser Tiere -nämlich der Hund - vier Tage nach dem Verschwinden der Leiche tot gefunden. Ich habe dies berücksichtigt und mir erlaubt, im letzten Fall ein Inserat aufzugeben - da war am Abend eine Katze aufgetaucht - und eine Belohnung für die Entdeckung der Leiche dieses Wesens auszusetzen. Heute früh habe ich eine Nachricht erhalten, die mich um fünfzehn Schillinge ärmer machte. Die Katze lag unter dem Schnee in einer Gruppe von Sträuchern, Schulkinder haben sie gefunden - nicht ganz zweihundert Meter von der Friedhofsleichenhalle entfernt. - Stanislaw Lem, Die Untersuchung. Frankfurt am Main 1978

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