Altphilologe    William Leslie Stamper, geboren 1880, hatte (wie es hieß) 1903 sein Examen in Oxford mit der besten Note bestanden, die jemals in Alten Sprachen vergeben worden war. Die Bemerkung in Klammern wäre überflüssig, hätte man sich nicht in späteren Jahren in dieser Beziehung ausschließlich auf W. L. Stamper selbst verlassen müssen. Die Unterlagen waren im Ersten Weltkrieg von Oxford an einen sicheren Ort gebracht worden und nie mehr aufgetaucht. Stamper selbst hatte infolge eines Gebrechens, das auch seiner überaus vielversprechenden akademischen Laufbahn ein allzu frühes Ende zu setzen drohte, keinen aktiven Kriegsdienst leisten können, was (wie es hieß) ein großer Kummer für Stamper gewesen war, der häufig beklagte, daß nicht auch er auf den Verlustlisten von Flandern oder Passchendaele zu finden war.

Man könnte es dem Leser nicht verübeln, wenn er aufgrund des vorangehenden Abschnitts zu der Ansicht gekommen wäre, Stamper sei ein Opportunist, ein heuchlerischer Egoist gewesen. Diese Vermutung ist höchst angreifbar, wenn auch nicht unbedingt unzutreffend. Als beispielsweise 1925 die Position des Master von Lonsdale vakant wurde und die akademische Welt zu Nominierungen aufgefordert wurde, hatte Stamper es abgelehnt zu kandidieren. Wenn man vor zehn Jahren befunden hatte, er sei nicht tauglich, für sein Land zu kämpfen, hatte er erklärt, könne man ihm jetzt kaum die Leitung des College anvertrauen, zumal laut Satzung der Kandidat körperlich und geistig gleichermaßen gesund zu sein hatte.

Danach hatte Stamper seine Jahre am College damit hingebracht, in seiner liebenswürdig-pedantischen Art Studenten in der esoterischen Kunst griechischer Prosa- und Verskomposition zu unterweisen, bis er sich aus gesundheitlichen Gründen mit fünfundsechzig, zwei Jahre früher als satzungsgemäß vorgesehen, zur Ruhe gesetzt hatte. Niemand und ganz gewiß nicht Stamper selbst (wie es hieß) rechnete damit, daß ihm noch eine lange Spanne Zeit zugemessen sei, und die Fellows nahmen einstimmig einen Antrag an, dem alten Knaben für die wenigen ihm verbleibenden Lebensjahre die schönsten Räume zuzuweisen, die das College zu bieten hatte.

So kam es, daß der legendäre Stamper als Fellow Emeritus ehrenhalber vom Zeitpunkt seines Ausscheidens im Jahre 1945 mit Kost und Logis am Lonsdale College geblieben war, zunächst bis 1955, dann bis 1965 und bis 1975. Fast hätte er es noch bis 1985 geschafft, im Alter von 104 Jahren aber hatte er dann unerwartet das Zeitliche gesegnet, und zwar nicht, weil die eine oder andere seiner Körperfunktionen versagt hätte, sondern infolge eines Sturzes nach fröhlichem Zechen bei einem Festbankett. Seine letzten Worte waren (wie es hieß) die geflüsterte Bitte, den Madeira noch einmal herumzureichen.   - Colin Dexter, Der Tod ist mein Nachbar. Reinbek bei Hamburg 2002

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