Altersbestimmung   Zwischen ihrem Hals und der Bluse oder ihrem Halsansatz und der Bluse oder ihrem Brustansatz und der Bluse, zwischen ihr und der Bluse war ein Raum, der war voll Licht. Gottlieb konnte nicht wegschauen. Es war, als sei er verloren. Schaute sie ihn an oder sein mageres Inserat? Schauten schon mehr Leute zu, wie er wie ein Elfjähriger etwas von einer Frau sehen wollte, was er nicht sehen durfte. Aber er mußte das sehen. Welch ein Licht, dieses Sommerlicht zwischen ihr und ihrer weißen Bluse. Sie stand nackt in diesem Licht, das zwischen ihr und ihrer Kleidung floß. Er zog seinen Blick ein, kramte in seiner Tasche. Auf Wiedersehen, Frau Sonntag. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Zürn. Daß sie eine quieksende Stimme hatte, tröstete ihn nicht.

Er war nicht froh, als er wieder im Freien war. Er hatte mehr sehen wollen als den Anfang ihrer Brust. Möglichst viel hatte er möglichst lang sehen wollen. Und er war gleich fünfzig. Wenn er bloß schon unter dem Umhang des Friseurs säße. Unter dem Umhang des Friseurs war er nicht gleich fünfzig, sondern elf oder zwölf oder vierzehn. Er fand, daß das durch das Geburtsjahr bestimmte Alter mit dem wirklichen Alter einer Person fast nie übereinstimmte. Er wußte noch sehr genau, daß er sich, als er zwanzig war, überhaupt nicht als Zwanzigjähriger gefühlt hatte. Damals hatte er geglaubt, er sei viel älter. Und jetzt, da er gleich fünfzig war, fühlte er sich oft wie vierzehn oder fünfzehn. Durch Selbstbeobachtung und Beobachtung anderer war er zu der unbeweisbaren Ansicht gekommen, irgendwann erreiche jeder sein wesentliches Alter, das er dann bis zu seinem Tode beibehalte. Etwa seit er dem Jahrgang nach vierzig war, kam er sich immer häufiger vor wie einer, der noch nicht fünfzehn ist. Wenn er jemanden kennenlernte, fand er bald genug Anlaß, dessen wirkliches Alter unabhängig vom Geburtsjahrgang zu bestimmen. Seit er diese Altersbestimmungen betrieb - natürlich konnte er, wegen der völligen Unbeweisbarkeit seiner Feststellungen, mit keinem darüber sprechen -, sah er, daß die meisten Menschen viel jünger waren, als sie nach ihrem Geburtsjahrgang glauben mußten.   - Martin Walser, Das Schwanenhaus. Frankfurt am Main 1982

 

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