Alte  »Wenn ich Ihnen wirklich die Wahrheit sagen soll: Die Alten sind Spinnen, die ihr Netz weben.«        

Das war etwas Neues, und ich richtete mich auf, um es gut zu verstehen, wenn ich es überhaupt verstehen konnte. »Aber es ist ein Netz, das man nicht sehen kann und auch . nicht durch Berühren fühlen kann.«

»Das fehlte gerade noch!« sage ich.

»Sie machen es mit Speichel, sehr lange Fäden und so fein, daß sie praktisch für unsere Wahrnehmungsweise gar nicht existieren. Und darum muß man einen sechsten Sinn haben, der von den Augenlidern und den Härchen am Hals kommt; denn, sehen Sie?, es ist, als würden dich diese unsichtbaren Spinnweben streifen, und dann fühlt man sich gefesselt und kann die Augen nicht mehr normal aufschlagen. Wenn also ein Alter da ist, der seinen Faden aussendet und er dich schon eingewickelt hat, dann spürt man, wie einem eine unmerkliche Feder über die Augen und die Wangen streicht, ein beinahe nicht existierendes Kitzeln. Dann dreht man sich um, und ein alter Mann gleitet heimlich weg oder einer seiner Stellvertreter, meinetwegen gekleidet wie ein Junger oder ein Vierzigjähriger. Aber das Aussehen zählt nicht, es zählt nur die Tatsache, daß er dich in den Faden gewickelt hat; das heißt, er hat den Speichel und gehört zum Verein.«

Ich hörte mir die Neuigkeit an, aber ohne zu verstehen, was geschehen war. Und er inzwischen:

»Die Fäden erreichen einen auch aus hundert Meter Entfernung und auch noch mehr; also kommt es vor, daß einer das typische Kitzeln spürt, um sich blickt, aber keine Menschenseele sieht. Dann denkt er: Ich habe mich wohl geirrt. Aber er spürt die winzige Berührung auf den Wimpern wieder; er dreht sich ein zweitesmal um und horcht, ob er etwas hört; und nach einer Weile sieht er unvermeidlich jemanden, zum Beispiel auch am Ende der Straße, ganz weit weg, wo man ihn kaum noch erkennt, geht einer halb gebückt oder, aufrecht schnell vorbei.

Und dann weiß man, was es war; die Spinnwebe. Es ist nicht ausgeschlossen, daß so ein Alter per Rad oder im Auto vorbeifährt. Auch im Verkehr kann man plötzlich spüren, daß einen die Spinnwebe streift, dann versucht man zu erraten, wer es gewesen ist, unter den vielen Autos und Mofas, die vorbeifahren und -flitzen. Und es ist sehr unwahrscheinlich, daß man es herausfindet, denn der Verkehr ist ein Chaos, und es gilt das Recht des Dschungels; das hat der Alte ausgenützt und ist etwa auf einem unscheinbaren Mofa vorbeigefahren, angezogen wie irgendeiner, der von der Arbeit kommt und sich in den Strom des Hauptverkehrs stürzt. Ihn hier zu erkennen, ist ein frommer Wunsch, denn alle fahren schnell, überholen, fahren im Zickzack, hupen, beschleunigen, bremsen, und man kann sich auch umdrehen, sowie man etwas spürt, und die Fahrer einen nach dem anderen anschauen. Aber im allgemeinen ist der Alte meiner Erfahrung nach schon über alle Berge. Wenn man Glück hat und sehr gut aufpaßt, kann man höchstens in fünfzig Meter Entfernung einen sehen, der sich eine halbe Sekunde, den Bruchteil einer Sekunde lang umdreht. Und man sieht seinen tubenförmigen Mund wie bei einer Larve.«  - (mond)

 

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