lptraum  Der Mieter, der Schweißer Kalman Kirch, kam morgens um drei nach Hause. Er bezahlte das Taxi und klingelte. Der Hausmeister kam nicht. Kirch nahm eine Handvoll Schnee und drückte sie gegen seine Stirn. Er hatte einen sitzen. Er wollte sich abkühlen. Er klingelte erneut.

Im Hausmeister blieb der nächstfolgende Schnarcher stecken. Der bittere Geschmack der Wut stieg ihm in den Mund. Er haßte die Menschen. Er haßte die Mieter, und besonders haßte er den versoffenen Schweißer. In seinen Gebeten hatte er ihm schon oft das Übel an den Hals gewünscht. Er betete oft, denn er gehörte einer Sekte an, die nur das Evangelium anerkannte und den Samstag statt des Sonntags feierte.

Kirch ahnte nichts von den Leidenschaften, die im Hausmeister wüteten. Er hatte in der Nachmittagsschicht auf der Elisabeth-Brücke gearbeitet. Danach setzte er sich in ein kleines stinkendes Lokal mit Musik und trank drei doppelte Szátmárer Slibovitz. Nach drei doppelten Szátmárer Slibovitz könnte man wirklich jeden ans Herz drücken. Er grüßte:

»Einen wunderschönen guten Abend, teuerster Herr Hornák.«

»Verrecke, du stinkendes Schwein, du stinkendes«, antwortete der Hausmeister nicht besonders laut, so daß es als Gruß durchgehen konnte.

Wenn man ihn vor Mitternacht wachklingelte, konnte er noch irgendwie einschlafen. Zum Glück wohnten hier, in den neuesten Häusern des neuen Wohnparks, lauter Frühaufsteher, Arbeiter- und Beamtenfamilien. Nur dieses betrunkene Schwein weckte ihn jeden Morgen. Danach konnte er nur noch betäubt daliegen, Einschlafen ging nicht mehr. Er brummte leise in sein Kissen, eine Art Wiegenlied: »Verrecke, du stinkendes blondes Schwein, verrecke.«

Kirch schickte den Fahrstuhl hinunter, ging in seine Wohnung, entkleidete sich und zog sich einen Pyjama an. Er war immer ein wenig berauscht. Jeweils vier Schweißer demontierten die Brücke, sie arbeiteten in drei Schichten. Wer ihnen von unten zusah, dem blieb vor Schreck das Herz stehen, deswegen zahlte man ihnen das Höchste, was die Lohnskala zuließ. Aber sie dort oben, im Herzen der Nacht, spürten die Gefahr nicht. Es gab gar keine Tiefe unter ihnen, es gab nur die Höhe droben. Mit dem blauen Licht bestrahlten sie ganz Budapest, und wenn sie wollten, könnten sie den Himmel an die Erde schweißen ... Die Frauen bekamen sofort Gänsehaut, wenn sie erfuhren, wo er arbeitete: auch das gefiel Kirch. Sowieso tat er nur, was ihm gefiel, und alles, was ihm gefiel, berauschte ihn ein wenig.

Er öffnete die Balkontür. Er trat auf den Balkon hinaus. Er nahm einen tiefen Atemzug. Er streckte sich ausgiebig. Die Luft duftete nach Schnee und Mörtel, und der Schnee und der Mörtel dufteten extra noch ein wenig nach Szátmárer Slibovitz. Diese Geruchsmischung gefiel Kirch so gut, daß er einen Schritt nach vorne tat.

Er stand im Nichts. Die Balkongeländer waren noch nicht fertiggestellt. In der Tordurchfahrt hing zwar ein Zettel: »Die Balkone zu betreten ist strengstens verboten«, und Kirch las diesen Zettel auch jeden Tag, trotzdem wußte er nicht, was draufstand, denn es grauste ihn instinktiv vor allen Verboten. Er nahm nur das zur Kenntnis, was ihm wohltat. Und da die Frische des winterlichen Lüftchens wohltat, trat er noch einen Schritt nach vorne. Und dann noch einen. Und dann fiel er hinunter.

Zwei Etagen plus das Hochparterre. Kirch fiel lange und wohltuend. Der Wind blies durch sein Pyjama, so daß er sich fast nackt fühlte. Er schlug einen Salto und fiel in einen Schneehaufen. Der Schnee kroch die Pyjamabeine hoch. Kirch war kitzlig. Er lachte. Dann strampelte er sich frei, klopfte den Schnee von den Beinen und klingelte erneut.

Herr Hornäk schreckte auf, lag dann aber noch lange bäuchlings da und starrte in die Dunkelheit. Seine Wut loderte sofort auf beim Gedanken, daß vielleicht der Schweißer geklingelt habe, aber sie erlosch auch gleich wieder, denn es fiel ihm ein, daß das besoffene Schwein schon nach Hause gekommen war. Er kroch aus seinem warmen Nest. Er zog eine Hose über sein Nachthemd, darüber einen Wintermantel, darüber einen Schal. Er schlurfte hinaus. Als er zum Tor kam, traten seine Augen hervor, eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter, in seinen Adern stockte das Blut.

»Einen wunderschönen guten Abend, teuerster Herr Hornák«, grüßte der Schweißer.

Er stieg in den Fahrstuhl. Durch das Summen des Fahrstuhls hörte er nicht, daß Herr Hornák auf der Straße wie wahnsinnig schrie und sich Schal, Mantel, Hose und schließlich auch das Nachthemd vom Leib riß. Die Rettung brachte ihn, in eine Decke gewickelt, in die Nervenklinik, wo er in einen tiefen Schlaf fiel, sich heftig herumwarf und mit den Zähnen knirschte. Während wir diese Zeilen schreiben, hat er das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. - (min)

Alptraum (2) Als die Sirenen ertönten, fiel Lauro ein, daß er die Nummer, die Lucero ihm gegeben hatte, anrufen sollte, aber er durfte das nicht von zu Hause aus tun, und gleich nach dem Sirenengeheul konnte er nicht auf die Straße gehen. Er sah, wie sich langsam Mechas Finger der linken Hand regten, wieder schienen die Augen unter den Lidern zu rollen. Die Krankenschwester riet ihm, das Zimmer zu verlassen, man konnte nichts tun, nur warten. »Sie träumt aber doch«, sagte Lauro, »sie träumt schon wieder, sehen Sie nur.« Es dauerte so lange wie die Sirenen da draußen, die Hände schienen etwas zu suchen, die Finger mühten sich, auf dem Bettuch einen Halt zu finden. Da erschien Doña Luisa schon wieder, sie konnte nicht schlafen. »Warum nicht«, fragte die Krankenschwester fast barsch, ob sie denn die Tabletten von Doktor Raimondi nicht genommen habe. »Ich kann sie nicht finden«, sagte Doña Luisa hilflos, »sie lagen auf dem Nachttisch, aber ich kann sie nicht finden.« Die Krankenschwester ging sie suchen, Lauro und seine Mutter blickten einander an, Mecha bewegte leicht die Finger, und beide spürten, daß der Alptraum andauerte, daß er endlos weiterging, als weigere er sich, den Punkt zu erreichen, wo so etwas wie Barmherzigkeit sie schließlich aufwecken würde wie alle anderen Menschen, um sie von dem Alp zu erlösen. Doch sie träumte weiter, immer wieder begannen ihre Finger sich zu bewegen. »Ich kann sie nirgends finden, Senora«, sagte die Krankenschwester. »Wir sind alle völlig durcheinander, ich frage mich, wohin das noch führen soll in diesem Haus.«  - Julio Cortázar, Alpträume. In: J.C., Ende der Etappe. Frankfurt am Main 1998
 
Träume
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