Dktualitätenkino   Ein Hypnotiseur und Schwarzmagier, der auf dem Mauritiusplatz sein Können vorführt und an dem ich mit meinen Eltern vorübergehe, wirft mir einen Blick zu, ohne dabei seine Rede zu unterbrechen oder die Aufmerksamkeit der Zuschauer von der goldenen Taschenuhr in seiner rechten erhobenen Hand abzulenken. Ich höre das Wort Republik und sehe den Straßenbelag unter meinen Schuhen und in einer flachen Pfütze vor mir die Schuhspitzen meiner Eltern, beide Paare schwarz, die meiner Mutter spitz, die meines Vaters abgerundet, und dann den Regen, der nur das letzte Wort des Hypnotiseurs für einen Moment unterstreicht und danach verschwindet wie ein Konfettiwurf. Als hätte ich das Wort Republik noch nie gehört, scheint es auf einmal alles zu beschreiben, die enge Passage, die zum Aktualitätenkino führt, die Parallelstraße, in der ich noch vor wenigen Jahren ein Pferdefuhrwerk mit Fässern gesehen habe, und die winklige Gasse, in die man auf defn Weg zur Stadtbücherei schauen kann, mit dem einen Hauseingang, immer offen, in dem Frauen stehen. Mein Vater löst an der Kasse des Aki eine Karte, und ich gehe allein, wie schon oft, durch die offene Doppeltür und zwischen dem in der Mitte geteilten und an den Rändern mit Lederborten verstärkten Filzvorhang hindurch. Ich setze mich, wie immer, an den Rand der siebten Reihe. Es läuft Werbung für ein Gurgelwasser. Ich höre meinen Vater manchmal morgens gurgeln, aber ich weiß nicht, warum man gurgelt. Immer wieder kommt mit den neuen Besuchern Zugluft von der regennassen Passage herein. Immer wieder steigen irgendwo aus den Reihen Schatten auf und verlassen den Raum. Irgendwo weiter hinten regnet es auf ein Stück Dach, und zwischen den Filmen knistern die Lautsprecher. Das Tierhygienische Institut Landwasser ist zu sehen, dann die Straße nach Hugstetten, dann ein Kruzifix, das an das Eisenbahnunglück erinnert. Mit Kreide über eine Tür geschriebene Zahlen. Bretter, unordentlich aufeinander wie im Schuppen neben der Schreinerei. Das Bild bleibt stehen. Eine Jahreszahl. Eine Stimme. Die Unglücksstelle. Musik. Ich meine, weiter hinten einen leblosen Körper zu erkennen. Ein anderes Bild. Eine Lok, die auf der Seite liegt. Männer mit Schaufeln. Ein Baumwipfel. Eine Kirche. Wieder Regen. Immer noch Regen. Ich habe kurze Hosen an. Die Männer mit den Schaufeln graben etwas ein. Es sind zerborstene Kisten. Asche. Staub. Zugluft. Ein Pilot mit einem Halstuch. Auf dem Acker haben sie aus Brettern notdürftig ein Gestell gebaut. Dahinter sitzt ohne Stola der Hypnotiseur und nimmt den Sterbenden, die vor ihn gelegt werden, die Beichte ab. Ich höre die einzelnen Sünden der Erwachsenen. Ich sehe Seifenblasen, die der Affe des Hypnotiseurs in die Luft bläst. Wie farblos sie werden, bevor sie zerplatzen. Um den Hals tragen die Männer ein Fläschchen mit Vademecum. Aus dem Dorf kommt eine Irre gerannt. Es stimmt, dass Wasser von den Felsen fließt. - (raf)
 

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