Sie sind aber nicht nur Schlangen, denn in Träumen erscheinen sie den Lebenden
in ihrer menschlichen Gestalt und sprechen zu ihnen. Man wartet auf diese Träume,
ohne sie wird das Dasein den Menschen unbehaglich. Sie wollen mit ihren Toten
sprechen, es liegt ihnen daran, sie in ihren Träumen hell und klar zu sehen.
Manchmal trübt sich das Bild der Ahnen und wird dunkel; dann muß man durch bestimmte
Riten dafür sorgen, daß es wieder klar wird. Von Zeit zu Zeit, aber ganz besonders
bei allen wichtigen Gelegenheiten, werden ihnen Opfer dargebracht. Man schlachtet
ihnen Ziegen und Ochsen und ruft sie auf feierliche Weise herbei, damit sie
davon genießen. Man nennt sie laut bei ihren Ruhmestiteln, auf die sie großen
Wert legen; sie sind sehr ehrliebend, und es gilt als beleidigend, diese Ruhmestitel
zu vergessen oder zu verschweigen. Das Tier, das geopfert wird, soll laut aufschreien,
damit sie es hören, die Ahnen lieben diesen Schrei. Schafe, die stumm sterben,
sind darum als Opfer nicht zu gebrauchen.
- (
cane
)
In Südaustralien wiederum kennt man am besten Ngurunderi sowie Nepali,
Daramulan und Baiame. In Zentralaustralien und der Western Desert wanderten
die göttlichen Ahnen über weite Strecken und berührten dabei viele Stämme, die
folgerichtig jeweils die entsprechenden Teilepisoden des Gesamtmythos' besitzen.
In dieser Gegend sind der rote Känguruhmann zuhause, die Zwei Männer (goannas),
das Opossum, die Bergteufelfrauen, die Honigameise und die Rattenmänner. - Märchen aus
Australien. Traumzeitmythen der Aborigines. Hg. Anneliese Löffler. München 1992
Und inzwischen waren diese Vorfahrenumrisse kraftlos geworden. Und auch das hatte sich ganz allmählich ereignet. Ihre verehrten Toten, so sah sie es eines Sommeroder Wintermorgens, waren Teil der zigmilliarden seit dem Beginn der Zeiten in das Erdreich versickerten, hinweggesinterten, verkrümelten oder in sämtliche Windrichtungen verpufften Nichtmehrvorhandenen, Niewiederzurückrufbaren, von keiner Liebe mehr Wiederbelebbaren, in alle Ewigkeit unersehnbar Gewordenen. Wohl agierten sie noch, wie früher, ab und zu in den Träumen, aber bloß so im Gewimmel, unter »ferner liefen«: dieses Ab und Zu hatte, anders als früher, nicht mehr die Bedeutung von »zu allen heiligen Zeiten«.
Und auch dieser zweite Tod ihrer Vorfahren war ihr dann, wie zuvor das aus
ihr entschwundene kleine und große Geburtsland, recht. Die Kräfte, die sie lange
Zeit weniger aus dem ganzen Land als aus den kleinen Landbruchstücken, weniger
aus einem geglückten ganzen Leben eines Ahnen (es gab freilich nicht einen einzigen
dieser Art) als aus dem Unglück und dem einsamen Sterben (das galt für alle
ihre Vorgänger) bezogen hatte, erschienen ihr inzwischen erschwindelt. Solche
Kräfte, fragte sie sich, machten sie nicht tyrannisch und rücksichtslos? Wirkten
zu Lasten derer, mit denen man jetzt war, lebte, arbeitete, umging, jetzt in
der Gegenwart? Solche Kräfte waren begleitet von einer Art Hoffart, welche die
Tage wie auch die Nächte der Zeitgenossen, der einem so oder so nah kommenden,
behindern, ja beschädigen, ja zerstören konnte? Ihre Ahnenverehrung losgeworden,
wurde sie frei für andere Kräfte? Impulse? Nein, so ganz recht war ihr das Bedeutungslos-
und Unscheinbarwerden der Vorfahren trotzdem nicht. Sie ließ es eher, Bitterkeit
nicht nur auf der Zunge, geschehen. - Peter Handke, Der Bildverlust. Frankfurt am Main 2002
|
||
|
|
|
|
|