equlibristen   Die Äquilibristen haben sich mehrmals den Hals gebrochen, aber sie sind so hartnäckig, daß sie sich am Ende auf dem Drahtseil halten. Ihre zu Vogelfüßen verkrümmten Füße umklammern perfekt das Seil oder den Draht, wobei es vor allem ein einziger Zeh ist, der sich vollkommen festkrallt und sich ringförmig schließt.

Alle großen Seiltänzer sind in Amerika gewesen. Es scheint, sie alle haben den Mississippi auf einem Drahtseil überquert und auch die Niagarafälle, und sie haben die Überfahrt von Amerika nach Europa auf dem Meer zu Fuß gemacht, Schritt für Schritt, auf einem gespannten Seil.

Der große Seiltänzer denkt längst nicht mehr daran, daß er herunterfallen könnte, und das gibt ihm eine beispiellose Sicherheit. Von seinem Drahtseil aus, auf dem er so sicher ist, verachtet er uns alle, denn keiner von uns würde können, was er kann.

Die Beine des Seiltänzers, ständig in Arbeit, verwandeln sich in drahtige Sprungfeder-Beine.

Angesichts des perfekten Seiltänzers wie angesichts anderer Cirkusartisten denkt man darüber nach, wie ihre bewundernswerten Fähigkeiten für etwas Wichtiges genutzt werden könnten, doch man weiß nicht wie. Ihre Arbeit ist eine Arbeit zum Spaß, und auch wenn zum Beispiel ein guter Seiltänzer einen Abgrund von einer Seite zur anderen überqueren könnte, um Geheimnisse vom Feind zu holen, würde es erforderlich sein, daß auf der anderen Seite jemand wäre, der das andere Ende des Seiles über dem Abgrund befestigte, und weil das so ist, wäre die Kühnheit des Seiltänzers gänzlich unnötig, weil ein Telephon genügen würde.

In wenigen Minuten spannen die Seiltänzer ihre Brücke über das Cirkusmeer. Mit großer Geschwindigkeit klettern sie hinauf, obgleich sie so tun, als stürzten sie ab und als würde ihnen der Zylinderhut ins Meer fallen.

Es sind junge Burschen, ruiniert und abgemagert, die sich ihre Peseten damit verdienen, auf des Messers Schneide zu arbeiten. Wie würde ihre Mutter schreien, wenn sie sie schwanken sähe, drauf und dran herunterzufallen, während sie sich an den Vorhängen aus der Luft festklammern!

Wer den Salto mortale auf dem Drahtseil springt und dabei auf demselben Seil landet, hat sich, weil er ausgerutscht und mit voller Wucht mit dem Schritt auf dem Seil gelandet ist, mehrmals von oben bis unten aufgeschlitzt. Zum Glück gibt es einen Arztkoffer für die Männer vom Cirkus, der sie schon viele Male vom Tode gerettet hat, denn alle sind schon mindestens siebenmal gestorben.

Die »Seiltänzer-Demoiselles« scheinen immer so dünn zu sein wie ein Drahtseil, aber sie alle besitzen die charakteristischen, mit Bällen aus rosa Zelluloid genährten Oberschenkel.

Die Seiltänzer schlafen gern am äußersten Bettrand und dann träumen sie, daß sie über ein Drahtseil von Amerika nach Europa, von Europa nach Amerika laufen.

Das jungfräuliche Mädchen, welches auf das Drahtseil fiel, das ihm zwischen die Beine geriet, hat seine Unschuld verloren. - RAMÓN GÓMEZ DE LA SERNA, aus: Salto. 99 Luftsprünge, Purzelbäume und andere Kunststücke. Berlin 2001 (Wagenbach, Salto 100, Hg. Susanne Schüssler, Maren Arzt)

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