damskind Man wollte wissen, er sei im Besitz der Buchrolle gewesen, die Adam einst aus der Hand des Engels Raziel empfangen hatte. Zweiundsiebzig Arten von Wissenschaften, welche in sechshundertsiebzig Zeichen der obersten Geheimnisse sich teilten, sowie fünfzehnhundert Schlüssel, die den Heiligen der Oberwelt nicht anvertraut sind, waren in dem Buche verborgen, so daß seine Kenntnis nicht nur einer umfassenden Einweihung in die Verschwiegenheit der Schöpfung gleichkam, sondern auch vollkommene persönliche Annehmlichkeit vor Gott und den Menschen gewährleistete und gegen alle bösen Anschläge sicherstellte. Durch den Diebstahl vom Baume jedoch war Adam des Buches verlustig gegangen. Denn die Genäschigkeit hatte seine ursprüngliche Weisheit nicht nur nicht vermehrt, sondern sie sogar bis zur Dummheit herabgesetzt, und der Ausdruck dieser Verdummung eben war der Verlust des Buches gewesen. Vordem nämlich hatte Adam beides besessen: Träume und Witz, das ist zusammen die Weisheit. Nachdem er aber vom Apfel gegessen, hatte er nur noch Witz, allenfalls in erhöhtem Grade, aber von Träumen nichts mehr, und sein Wissen war hin. Es tröstete ihn jedoch der Bote Raziel: Das Buch sei in einer goldenen Truhe, zusammen mit Spezereien, verschlossen und in einer Höhle aufbewahrt, und wer unter Adams Kindern reinen Fleisches und sanften Gemütes sein werde, der werde es finden und wieder sowohl Träume als Witz, nämlich Weisheit besitzen.
Ein solches Adamskind war Henoch gewesen. Er hatte die Schrift gefunden;
über Seth, Enos und Mehalel war es auf ihn gekommen, und all sein Beginnen war
fortan gewesen, darin zu lesen und mit Griffel und Pinsel umfassende Auszüge
daraus zu machen. Durch diese literarische Tätigkeit war er teilhaft geworden
des Geistes, des Verstandes und der Vernunft, so daß er sprechen konnte mit
jedem Menschen, auch sogar mit dem Vieh und den Tieren des Himmels und, was
aus seinem Munde hervorging, sich wohl ausnahm. Nicht nur, daß er von Monat
zu Monat alles Zukünftige erschaut hatte und was zwischen Tag und Nacht sich
ereignen würde, nein, sondern jedes Ding war ihm offen gewesen, er hatte zu
sagen gewußt, ob Hunger, ob Unglück bevorstehe, ob des Getreides viel sein werde
oder wenig, ob vorgesehen sei Regen oder Dürre, ob Hundefliegen, Heuschrecken
oder Abschäler kommen würden, ob der Baum seine Früchte verlieren würde oder
die Menschen mit Grind geschlagen werden würden; auch ob die Gottlosen herrschen
würden auf Erden und Seuchen unter Menschen und Vieh. Nicht genug damit, hatte
er aus dem Buch das Werk der Wunder kennengelernt sowie die Geheimnisse und
Schätze der Vernunft, die Gedanken der Demut, die Anschläge des Rates, so daß
er nunmehr imstande gewesen war, die Stufen der oberen Regionen zu ergründen,
alle sieben Wohnstätten zu durchstreifen, alle Planeten erkennend zu umkreisen.
Ja, er hatte deren Gang zu beobachten vermocht, die Bahnen des Mondes erforscht,
sich auf die Lichter verstanden, die jeden Monat ihren Dienst verrichten, den
Namen jedes Kreislaufs zu nennen gewußt und genau die Engel gekannt, die den
vier Jahreszeiten vorstehen. Dies alles hatte er begriffen durch des Buches
heiligen Geist. Tod und Leben, das Gute und Böse waren ihm durch und durch vertraut
gewesen. Er hatte gewußt, was zum Glücken einer Sache ver-hilft, und das Geheimnis
der Stunden, der Augenblicke und der Weilen ergründet, ebenso die Zahl aller
Tage. War es nötig, zu sagen,' daß er Träume und Gesichte zu deuten gewußt hatte?
Es verstand sich beinahe von selbst. Er hatte sich ausgekannt in dem Rollen
des Donners, zu erzählen gewußt, was das Werk der Blitze sei, und gründlich
die Lehre erfaßt von den Zeitabschnitten und Jubeljahren bis ans Ende
der Welt. - Thomas Mann, Der Knabe Henoch. In: T. M., Sämtliche
Erzählungen. Frankfurt am Main 1963
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