Adampetonismus  Eine neue künstlerische und literarische Genossenschaftsschule, der Adampetonismus, ist gegründet worden.

Ich, Elettrone Rotativi, Fatum, Prophet und Motor, lehre Euch, meine treuen Gefolgsleute, die Grundsätze. Lernt sie auswendig, folgt ihnen genau und die Welt wird mit euch neu beginnen.

DIE KUNST

Was ist die Kunst?

Die Kunst ist ein Sport nach der Art des Boxens.

Jemand unter uns hat gesagt, daß die Kunst das raffinierte Vergnügen der Sensibilität ist, die sich in einem Werk widerspiegelt: das heißt, viel gegen die alte und auch die gegenwärtige Idee der Kunst als Berufung, der Kunst als Sendung zu sagen; der , £jampetonismus kann jedoch nicht innerhalb solcher dilettantischer Grenzen bleiben. Der Adampetonismus legt also fest, daß  die Kunst das Ventil einer übermäßigen Muskelenergie ist, genau wie, ich wiederhole, das Boxen und der Fußball. Und sie soll ich an die Regeln dieser beiden Sportarten halten.

DIE VERGANGENHEIT

Die Vergangenheit existiert nicht.

Einige kluge, aber nicht adampetonistische Leute haben in letzter Zeit etwas ähnliches behauptet und nachgewiesen; sie gehen davon aus, daß wir alles, was wir von der Vergangenheit wissen, in jedem Zustand und in jeder Stufe unserer Sensibilität wiedererleben können. Diese Leute behaupten, daß der einzige lebensfähige und deshalb existierende Teil eines Werkes der Vergangenheit derjenige ist, in dem sich unser kritischer und kreativer Geist und seine emotionale Qualität noch verkörpern kann; letztere ist mit dem Zustand unserer, in ständiger Veränderung begriffenen Vorstellungskraft eng verbundenen. Und sie werfen alles andere in die exklusive Domäne der Gelehrsamkeit und der Geschichte zurück.

Dies sind Unterscheidungen und Feinheiten von Verstandesmenschen und Skeptikern: wehrt Euch dagegen.

Der Adampetonismus proklamiert dagegen die simple und radikale Abschaffung der Vergangenheit.

Um originelle Werke zu schaffen, ist es nötig, alles, was bis heute getan worden ist, zu ignorieren.

Der Künstler, der nichts weiß, der nichts gelesen hat, der nichts gesehen hat und der niemals gedacht hat, ist nach der adampetonistischen Theorie der Beste.

Diese radikale Verneinung ist ein Akt von bewunderungswürdigem Mut.

Die üblichen Präadampetonisten wenden ein, daß ohne die Kenntis der Vergangenheit und der Werke, die die Tradition ausmachen, selbst die Idee, nicht nur der Kunst, sondern auch des Menschen nicht begreifbar wäre. Sie sagen, daß wir nur deshalb wissen, was Dichtung, Malerei, Musik etc. ist, weil wir uns auf die Dichtung, die Malerei, die Musik etc., die wir kennen, berufen, und daß eine Entwicklung dieser Künste nur durch eine Verfeinerung der Sensibilität möglich ist, die auf dieselben gewirkt hat.

Der Adampetonismus erhebt starken Einspruch gegen diese Ideen, die das Ergebnis der Intelligenz sind, und behauptet mit Bergson: La vie deborde l'intelligence!

Der Adampetonismus lehnt die Kontinuität des künstlerischen und literarischen strebens ab. Wir wollen, daß der Künstler perfekt und genial aus dem vorhergehenden Nichts hervorgeht.

Kunst = Originalität.

DIE ORIGINALITÄT

Originalität bedeutet Umkehrung, Umwälzung, Unordnung und Übertreibung von Formen.

Daß es notwendig ist, sich eine neue Sensibilität zu bilden, die komplexe Strahlungen des künstlerischen Geistes aufzunehmen und sich anzueignen, um wirklich originell zu sein; daß letztlich Originalität die einzige Nuancierung, das eigentliche Wesen unserer Persönlichkeit ausmacht, und das heißt, äußerst aufrichtig zu all das schlagt Euch energisch aus dem Kopf. All das ist entbehrlich; es handelt sich um Verworrenheiten von Präadampetonisten; es genügt, daß die Formen ungewöhnlich sind.

Was nie gesehen, nie gehört, nie in einer gegebenen Form gelesen worden ist  originell und ordentlich adampetonistisch.

Von diesem Prinzip ausgehend, wird das Forschungsfeld ungeheuer weit ja unbegrenzt.

Vor dem Anbruch des Adampetonismus ist jemand gesehen worden, der mit einer Joppe über der Schulter herumlief. Dies war wahre Originalität, aber der adampetonistische Künstler soll unendlich darüber hinaus gehen.

Er kann, besser noch soll zum Beispiel, wenn er Maler ist, Bilder malen, die nach allen Seiten drehbar, von unten nach oben, von hinten nach vorne betrachtbar sind; die mit Nägeln und Dachziegeln hergestellt sind; ganz weiß oder ganz grün, halb rot und halb blau; aus Lichtbirnen und Rauch zusammengesetzt, etc.

Der Musiker kann, ja er soll, drei Töne unterschiedlicher Tonlage für 4 Stunden hintereinander wiederholen; mit Hilfe eines Orchesters aus Geschirr oder aus dressierten Tieren eine umgekehrte Tonleiter zusammenstellen; auf fünf Klavieren gleichzeitig ins Blaue schlagen etc.

Der Dichter kann, besser noch soll seine Gedichte in sehr unterschiedlichen Lettern und in mehreren Farben schreiben; er soll sie in Relief, auf den Kopf, schräg, mit dem Titel an der Stelle der Unterschrift veröffentlichen, mit dem Titelblatt am Ende des Bandes, etc.

Und es macht nichts, daß es dem Bild des Malers an Plastizität, an Zeichen, an Farbzusammenhang, an Bedeutung oder an Schönheit fehlt, und daß die Sensibilität des Künstlers gleich der irgendeines mittelmäßigen oder eines Nicht-Künstlers ist. Daß die Musik des Komponisten idiotisch ist oder höchstens gleichwertig mit der eines Gior-dano oder mit der des miserablen Strauss ist. Daß die Gedichte des Schriftstellers im Grunde altes Spülwasser eines Victor Hugo, D'Annunzio, Zola oder sogar Barzini sind.

Das wesentliche ist, daß der chromatische Unsinn, das Getöse, und die poetische Banalitäten in einer beispiellosen Form dargestellt werden.

Der Adampetonismus verbannt aus dem Feld der Kunst die Einsicht, den Geschmack, das Maß, den inneren Wert des Werkes, die Mähne des Genies und verkündet laut die Modernität.

DIE MODERNITÄT

Als Modernität soll der Adampetonist das Mechanische und das Städtische verstehen.

Alles was mechanisch und städtisch ist, ist modern, alles was nicht mechanisch, nicht städtisch ist, ist nicht modern.

Die Modernität besteht nicht in einer neuen Weise, die Dinge zu sehen, zu hören und auszudrücken, sondern in den Dingen selbst.

Der Adampetonismus schafft das Land, die Tafel, die Kerze - die Natur ab. Als Natur soll der Adampetonist alles verstehen, was nicht mechanisch und städtisch ist. Der Mechanismus und die Stadt sind nicht Natur.

Einige Denker und geniale, nicht ganz adampetonistische Künstler glauben, daß derjenige modern sei, der, nachdem er die schwierigen und komplexen Probleme der Religion, der Moral, der Soziologie und der Ästhetik vertieft und keine Lösung unversucht gelassen hat, am Ende den verzweifelten Skeptizismus, zu dem ihn diese Untersuchung der theoretischen Wirklichkeit gebracht hat, in Lebensfreude und in glänzenden, kreativen Wille verwandelt hat.

In all dem gibt es nichts Mechanisches noch Städtisches und der Adampetonismus soll dies als ein Resultat der Kultur, des Intellektualismus und der Intelligenz heftig verurteilen. La vie deborde l'intelligence, hat Bergson geschrieben.

Der Adampetonist kann also an die gröbste Religiosität, den spießigsten Moralismus und den ranzigsten Soziologismus gekettet leben und sogar die Bedeutung des Lyrismus sowie des reinen Lyrismus ignorieren.

Um wirklich modern zu sein, wird es dem Adampetonisten genügen, in einer Stadt zu leben und mindestens ein Fahrrad zu besitzen oder ein Feuerzeug, um die Zigarre anzustecken.

POLITIK

Zur Friedenszeit proklamiert der Adampetonismus enthusiastisch den Krieg. Zur Kriegszeit demonstriert er. Dies ist seine Politik.

Auch die Präadampetonisten hassen den Krieg nicht, und wenn sie ihn für notwendig halten, bedienen sie sich ihrer natürlichen Mittel, die das Wort und das Schreiben sind, um auf die Regierung einzuwirken, die Argumente der Pazifisten zu demontieren, die klugen Leute zu überzeugen, die öffentliche Meinung zu bilden und zu lenken: aber all das soll von jedem echten Adampetonisten abgelehnt und für nutzlos gehalten werden. Der Adampetonist soll einzig und allein für den Krieg demonstrieren.

Die 6 wirksamsten Weisen, um die eigenen kriegerischen Ideen kundzutun, sind:

1) Eine kleine gelb-schwarze Papierfahne verbrennen.

2) Auf einer Hauptstraße mit einem Nationalbanner in der Rechten und einer gelbschwarzen Papierfahne in der Linken herumlaufen.

3) Auf Trikoloren-Postkarten schreiben, die als Motto einen Kalauer haben.

4) Während der Tumulte nieder mit..! und es lebe hoch! schreien.

5) In einem Anzug in den Farben der Trikolore ausgehen.

6) Einen Polizisten ohrfeigen, um für drei Stunden in das Polizeipräsidium gebracht zu werden. Jede andere politische Auffassung ist nicht modern und soll vernachlässigt werden.

ZIELSETZUNG

Die Zielsetzungen des Adampetonismus sind weder die der Bereicherung des künstlerischen und literarischen Gutes, noch die Schaffensfreude, noch der Ruhm.

Der Adampetonist soll sich vor allem die Popularität, die schreiende Berühmtheit und den freien und stolzen Zugang zur großen Welt wünschen.

Seine bevorzugte Strategie soll sein, mit allen Mitteln Reklame für sich zu machen

Die Präadampetonisten halten die Reklame und den Skandal für eine Lebenserscheinung, die zur Erneuerung der Sensibilität beitragen kann; aber diese Auffassung ist ungenügend und von kulturellem und skeptischem Charakter. Der Adampetonist sieht die Reklame als die wichtigste Bestätigung des eigenen Genies an.

Deswegen schließt er ein Bündnis mit dem Journalismus und dem Theater.

Es ist nützlich, von einer Bühne mit der Menge zu sprechen.

Eine Zeitungsglosse in den Berichten, in der die Wörter Adampetonismus, Adampetonist und die Namen eines oder mehrerer Gruppenmitglieder erscheinen, ist sehr wichtig.

Das Ideal des Adampetonisten ist es, von irgendeiner bedeutenden Persönlichkeit empfangen zu werden; viele, am besten adlige Liebhaberinnen zu haben, Umgang mit der vornehmen Gesellschaft zu pflegen, die im Besitz von Autos und demnach modern ist, und daß man beim Ausgehen mit dem Finger auf ihn zeigt.

TAKTIK

Die Taktik des Adampetonisten soll zunächst in der Zusammenarbeit und in der Solidarität bestehen.

Die echten adampetonistischen Künstler und Schriftsteller sollen in einem Verband nach diesem Prinzip zusammenarbeiten: alle für einen und einer für alle.

Im Adampetonismus gibt es zwischen den Gruppenmitgliedern keinen Unterschied nach Verdienst. Ein Adampetonist gilt genauso viel wie ein anderer (und sei er auch der dümmste), wenn er ordnungsgemäß vom Direktor in die Gesellschaftslisten eingetragen worden ist.

Innerhalb des Adampetonismus ist jedes Recht auf Kritik abgeschafft.

Auseinandersetzungen und Polemiken werden nicht zugelassen.

Ein der theoretischen Ordnung widriges Argument wird mit einem im Auftrag des Direktors formulierten Brief voller erniedrigender Beleidigungen oder mit einem Revolverschuß beantwortet.

Wenn ein oder mehrere Adampetonisten, die der Promiskuität müde sind, sich den Gesetzen der Gruppe widersetzen und aus ihr austreten, hören sie sogleich auf, adampetonistisch, somit modern zu sein.   - "Elettrone Rottaivi" [Ardengo Soffici], nach Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hg. Wolfgang Asholt, Walter Fähnders. Stuttgart Weimar 1995

 

Avantgarde

 

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Synonyme