Achtsamkeit  Als er ein Jahr zuvor gespürt hatte, dass es ihm immer schwerer fiel, den Anblick von Leichen am Tatort zu ertragen, hatte er das buddhistische Zentrum in Vin-cennes aufgesucht, um sich zu erkundigen, ob es möglich sei, dort Asubhã zu praktizieren, die Meditation in Präsenz eines Leichnams. Der diensthabende Lama hatte zunächst versucht, ihn davon abzubringen: Diese Art von Meditation, meinte er, sei schwierig und kaum mit westlicher Mentalität in Einklang zu bringen. Doch als Jasselin ihm seinen Beruf verriet, besann er sich und bat um Bedenkzeit. Ein paar Tage später rief der Lama ihn an und sagte ihm, ja, in seinem besonderen Fall könne Asubhã vermutlich durchaus das Richtige sein. In Europa werde es zwar nicht praktiziert, da es mit den hiesigen sanitären Normen unvereinbar sei, aber er könne ihm die Adresse eines Klosters in Sri Lanka geben, das manchmal Besuchern aus westlichen Ländern den Zugang gestatte. Jasselin hatte zwei Wochen seines Urlaubs darauf verwandt, nachdem er - und das war die größte Schwierigkeit gewesen - eine Fluggesellschaft gefunden hatte, die bereit war, seinen Hund mitfliegen zu lassen. Während seine Frau an den Strand ging, begab er sich jeden Morgen auf einen Totenplatz, auf dem die Leichen von vor kurzem verstorbenen Menschen niedergelegt wurden, ohne dass irgendwelche Maßnahmen getroffen wurden, um sie vor Raubtieren oder Insekten zu schützen. Und so konnte er bei äußerster Konzentration all seiner geistigen Fähigkeiten und unter Beachtung der Lehre, die Buddha in seiner Rede über das Erwecken der Achtsamkeit auf den Körper zum Ausdruck gebracht hat, achtsam den aufgedunsenen Leichnam betrachten, achtsam den eitrigen Leichnam betrachten, achtsam den zerhackten und zerstreuten Leichnam betrachten, achtsam den madigen Leichnam betrachten. In jedem Stadium musste er achtundvierzig Mal wiederholen: »Dies ist mein Schicksal, das Schicksal der gesamten Menschheit, dem kann ich nicht entgehen.«

Wie ihm jetzt bewusst wurde, war die Asubhã-Methode ein voller Erfolg gewesen, und zwar in einem solchen Maß, dass er sie ohne zu zögern jedem Polizeibeamten empfohlen hätte. Trotzdem war er nicht zum Buddhisten geworden, und obwohl sich sein instinktiver Ekel beim Anblick einer Leiche beträchtlich verringert hatte, empfand er noch immer Hass auf den Mörder, Hass und Angst; er wünschte sich, der Mörder möge vernichtet, vom Erdboden verschluckt werden.  - Michel Houellebecq. Karte und Gebiet. Köln 2011

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