bgeordneter Kaum
hat er den Sicherheitsgurt angelegt, nimmt der Abgeordnete ein dickes Bündel
Zeitungen zur Hand und zieht mit sichtlicher Vorliebe ›Le Monde‹ heraus; rasch
blättert er die Zeitung durch, faltet sie wieder zusammen und fängt dann auf
der ersten Seite zu lesen an. Das Flugzeug befindet sich noch auf der Startbahn,
da wird der Abgeordnete schon unruhig; er hebt den Blick und schaut erst nach
links, dann nach rechts. Was in seinem Auge vorgeht, erinnert mich an einen
Satz von Carrieri: »Das Auge nimmt auf, was XY schreibt, und dann muß man zum
Augenarzt gehen.« Eine halbe Spalte von ›Le Monde‹ hat des Abgeordneten
Auge aufgenommen, mehr nicht; dort liegt sie, bleiern, hart, mit französischen
Akzenten gespickt. Ein Augenblick der Verzweiflung, der Panik. Dann wühlt der
Abgeordnete in den Zeitungen, die auf seinem Schoß liegen, sucht sein Parteiblatt
heraus und versinkt in dem Leitartikel wie in einem breiten Liebesbett. Seine
Augen sehe ich nun nicht mehr, aber ich kann mir leicht vorstellen, wie in der
mütterlichen, sicheren und dauerhaften Wärme des von einem anderen Abgeordneten
verfaßten Leitartikels die halbe Spalte aus ›Le Monde‹ allmählich dahinschmilzt.
-
(scia)
Abgeordneter (2)
|
||
|
||