Abgehörtwerden   »Sie waren der unfähigste Schüler in der Klasse. Sie haben nicht gewußt, daß sich die Richtungen verschieden laufender Geraden voneinander entfernen, aber Sie haben mit dem größten Appetit in diesem Buch die Erwägungen über die Ehe gelesen und noch dazu den Satz unterstrichen: >Die Existenz und der Fortbestand der Lebewesen ist auf dem Geschlechtstrieb begründet, der sich in der Vereinigung der Geschlechter äußert.< Das Professorenkollegium wird Ihnen den Gcschlechtstrieb aus dem Kopf treiben, und ein Konsilium abeundi ist zu wenig. Während ich erkläre, was eine Sekante und eine Tangente ist, lesen Sie unter der Bank, daß die Ehe nach der physiologischen Seite hin nur eine Verbindung beider Geschlechter zwecks Erlangung desselben Zieles, nämlich dauernder Erhaltung der Art ist.«

»So ist's«, ließ sich abermals die unbekannte Stimme in der Klasse vernehmen, aber gleich darauf schrien etwa zwanzig Stimmen: »Halt's Maul, oder wir machen Haschee aus dir. Unterbrich den Herrn Professor nicht.«

Es herrschte Grabesstille. Wäre in diesem Augenblick selbst der strengste Inspektor eingetreten, er hätte Professor Hendrich sagen müssen: »Ich gratuliere Ihnen, Sie haben die musterhafteste Klasse. Nirgends haben die Schüler ein solches Interesse gezeigt.«

»Chaloupecký«, fuhr der Professor fort, »in der sechsten Schularbeit kennen Sie nur einen rechten und einen schiefen Winkel, und den spitzen, stumpfen und konkaven Winkel haben Sie ausgelassen. Das hindert Sie aber nicht daran, sich darüber zu unterrichten, daß unberührte Reinheit und dauernde Abstinenz unmöglich sind und stürmische Begierden, die ohne Hoffnung auf Befriedigung unterdrückt werden, Mann und Frau melancholisch und wortkarg machen. Zeichnen Sie mir mit Hilfe des Winkelmessers einen Winkel von 750°. Na, sehen Sie, Chaloupecky, nicht einmal das können Sie, aber in der Geometriestunde von Venushügeln lesen, das halten Sie für wichtiger, als zu wissen, was ein Halbmesser ist, und sich in die Beschreibung des menschlichen Körpers zu vertiefen, ist für Sie maßgebender, als zu begreifen, daß ein Oval eine der Ellipse angenäherte Gerade ist, die sich aus Kreissegmenten zusammensetzt. Sagen Sie mir, was ist eine Ellipse? Daß Sie das nicht ausdrücken können?«

Der Professor verstummte, blätterte eifrig und rief: »Aber ich bin überzeugt und zweifle nicht die Bohne, wenn Sie jemand nach einer erotischen Affektion fragen würde, so könnten Sie sie ihm sehr ausführlich erklären.«

Während er in das Buch schaute, fragte er Chaloupecký: »Sagen Sie mir zum Beispiel, was Erotomanie ist.«

Man konnte das Ticken der Taschenuhr Matouscheks vernehmen, der in der ersten Bank saß.

Und Chaloupecký antwortete scharf, mit klingender Stimme: »Erotomanie ist ein erotischer Wahnsinn, dem beide Geschlechter ohne Unterschied unterliegen.«

»Nicht doch, Chaloupecký«, verbesserte ihn der Professor, in den Text des Kapitels blickend: »Nicht unterliegen, sondern von dem sie befallen werden.«

»Das ist ein großer Unterschied, Jungens«, bemerkte er zu der Klasse gewandt: »Die Erotomanie befällt beide Geschlechter ohne Unterschied, aber der Erotomanie unterliegen kann man nicht. Fahren Sie fort, ChaJoupecky, oder wissen Sie schon nicht weiter?«

Chaloupecký fuhr mit derselben Sicherheit in der Beherrschung des Stoffes fort: »Der Erotomane pflegt gewöhnlich von der Leidenschaft zu einem entweder realen oder idealen Gegenstand besessen zu sein; er träumt nur von Liebe, Glück, süßer Wollust, und erfüllt von dem Feuer, das in ihm tobt, betet er unaufhörlich den Gegenstand seiner heißen Sehnsucht an. Der Erotomane ist bei seiner Leidenschaft keusch, wie nachstehendes Beispiel beweist.«

»Genug, Chaloupecký, was sind Aphrodisiaka?«

»Unter dem Namen Aphrodisiaka«, antwortete Chaloupecký ohne Zögern, »verstehen wir verschiedene nahrhafte und heilsame Stoffe, die wir benützen, um das in uns bereits erlöschende Feuer der physischen Liebe zu beleben und es wieder zu entfachen, wenn es ganz erloschen ist. Größtenteils sind die Rezepte zu diesen Mitteln aus mehr oder weniger übelschmeckenden und widerwärtigen Steifen zusammengesetzt. Zahlreiche in der alten und modernen Geschichte verzeichnete Tatsachen schließen jeden Zweifel darüber aus.«

»Nicht so oberflächlich, Chaloupecký«, regte sich der Professor auf, »wovon ist zum Beispiel der römische Kaiser Caligula verrückt geworden, woraus setzte sich jener Liebestrank zusammen, den ihn Quaesonia austrinken ließ?«

Der bisher kühle Chaloupecký schwankte. Da er während der ganzen Zeit seiner Studien einen Abscheu gegen historische Tatsachen hatte, war er über dieses Beispiel aus der Geschichte hinweggegangen.

Er fing an, Luft zu schnappen, und blickte fragend in die ersten Bänke auf die Souffleure. Aber woher denn. Die warteten selbst wißbegierig auf Aufklärung, wie auf die Gnade Gottes.

»Also werde ich es Ihnen sagen, Chaloupecky. Sie hat ihm einen Absud aus Satureja, Pfefferkraut und Gartenkresse zu trinken gegeben. Merkt euch das, Jungens. - Das war es, wovon Kaiser Caligula verrückt geworden ist. - Man sieht, Chaloupecky, daß Sie sich nicht vorbereitet haben.«

Der Professor blätterte einige Seite um, trat mit dem Notizbuch zu Chaloupecký und schmetterte ihn mit nachstehender Frage vollständig nieder:

»Zwischen wieviel Zentimetern schwankt die Länge des Neugeborenen? Ruhe, dort hinten!«

Die Klasse hatte nämlich abermals zu lärmen begonnen.

Chaloupecký war verloren. Gegen Ziffern hatte er denselben Widerwillen wie gegen historische Tatsachen. Und die Hygiene der Neugeborenen hatte er nur ganz flüchtig gelesen.

»Sie wissen es also nicht«, knurrte der Professor, »offenbar wissen Sie auch nicht, zwischen wieviel Gramm das Gewicht der Neugeborenen schwankt?«

Der Lärm in der Klasse steigerte sich. Es war, als wären alle neu belebt.

Chaloupecky schwieg.

»Sie haben einen Sechser, Chaloupecký<, setzen Sie sich.«  - Das Jaroslav Hašek Lesebuch. Zürich 2008

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